„Geste,“ ist eine Ausstellung, die schon vom Titel und der Kommasetzung her verwirrt. Was genau dahinter steckt, können Besucher der Schau im Württembergische Kunstverein in Stuttgart erfahren.

Stuttgart - Was eine Geste ist, glaubt man zu wissen: die geballte Faust, der erhobene Zeigefinger, der obszöne Mittelfinger. Zeichen der Hand, klar und unmissverständlich. Doch wenn die wortlose Sprache des Leibes und der Glieder eine derart simple Angelegenheit wäre, würde das Ganze nicht den Württembergischen Kunstverein (WKV) interessieren.

 

„Geste,“ nennen die für ihre ehrgeizigen Theorieprojekte bekannten Kuratoren Hans D. Christ und Iris Dressler ihre neue Themenschau. Ein Komma, nach dem nichts mehr kommt – schon das seltsame Titelkonstrukt deutet darauf hin, dass hinter vermeintlich Eindeutigem etwas Unabgeschlossenes lauert und Gesten mindestens so viel verschweigen wie sie zum Ausdruck bringen. Was veranstaltet zum Beispiel die junge Afrikanerin bei Karen Mirza und Brad Butler mit ihren Händen? Mal denkt man, die Akteurin der Videoinstallation würde versuchen, irgendetwas, das an den Fingern klebt, wieder los zu werden, dann sieht es aus, als verpasse sie jemandem Karateschläge, bis am Ende der Finger wie ein Taktstock durch die Luft schwingt. Inspiriert wurde die Arbeit ursprünglich von einem politischen Pamphlet aus dem Umfeld des Arabischen Frühlings, doch die rein körpersprachliche Umsetzung löst den harten Faktenstil der Vorlage ins Poetisch-Assoziative auf.

Die Klassiker der antiken Rhetorik hatten es noch leicht, als sie dem Redner empfohlen, Gestik und Mimik gezielt einzusetzen, um dem gesprochenen Wort Nachdruck zu verleihen, es verstehbarer zu machen. Der Begleittext des Kunstvereins aber hält es eher mit dem italienischen Starphilosophen Giorgio Agamben, für den die Geste aus einem Unvermögen zu sprechen resultiert. Irgendwo in einem diskursiven Mauseloch zwischen Sinn und Sinnlosigkeit versteckt sie sich.

Wer ist der Unglückliche?

Genau dahin will offenbar auch Douglas Gordons Video. Ein Mann in Unterhose liegt auf dem Boden eines gefängnisartigen Raums. Quälend lange Filmminuten sehen wir dem Halbnackten bei dem Versuch aufzustehen zu, doch kaum hat er es geschafft, stürzt er wieder. Die Schwerkraft scheint stärker. Auch diese Arbeit basiert auf Vorgefundenem: Stummfilmmaterial aus dem Ersten Weltkrieg. Ist der Unglückliche ein traumatisierter Soldat? Der Teilnehmer einer wissenschaftlichen Studie? Falls sein Straucheln eine Geste darstellt, dann jedenfalls keine nette.

Unentwegt tun sich in der von Foto- und Medienkunst dominierten Schau neue Seitenwege auf. Bringt Gordons Beitrag den Aspekt der neurologischen Bewegungsstörung ins Spiel, kostet David Hintons Filmcollage schadenfroh den Slapstick-Effekt aus, wenn Menschen auf vereisten Straßen ausgleiten. Der 1896 von den Brüdern Lumière gefilmte Schlangentanz der Choreografie-Rebellin Loie Fuller schließlich begibt sich auf das Terrain des ästhetisierten Körpereinsatzes. Tick, Taumeln, Tanz – am Ende verlässt man den Vierecksaal mit dem Gefühl, weniger über die Geste zu wissen als vor dem Besuch der Ausstellung.

Nachdem der WKV bereits 2012 mit der anstrengenden Sprechakt-Schau „Acts of voicing“ nach Ideenverbindungen von Kunst und Kommunikationstheorie fahndete, verheben sich Christ/Dressler nun erneut am eigenen intellektuellen Anspruch. Aus Angst vor vereinfachenden Zuspitzungen verschanzt sich das Ganze hinter den Ambivalenzen der Kunst. Mit der Konsequenz, dass jenes „Sich-Nicht-Zurecht-Finden des Menschen in der Sprache“, welches die Geste erst hervorbringe, auch der Präsentation selbst eine Orientierungslosigkeit „eingeschrieben“ hat, um im Jargon zu bleiben.

Wie eine Kugel im Flipperautomaten

Vielleicht hätte eine Untergliederung in Themenblöcke die Verwirrung reduziert. So aber fühlt sich der Besucher wie die Kugel in einem Flipperautomaten durch den riesigen Ausstellungsraum gestoßen. Von Zeitungsmaterial über Griechenlands Sozialisten zur Therapiesitzung bei Lacan, von schräger Show zu nüchterner Dokumentation oder zur Verquickung von beidem. Selbst der Kopf-ab-Spaß des Filmpioniers Georges Méliès, der exemplarisch die Bedeutung der Geste im frühen Kino belegen soll, steigert die Laune nur kurz.

Zu überzeugen vermögen allenfalls solche Beiträge, die sich mit Posen und Posing als Nachbarphänomenen der Geste beschäftigen. Die Malerin Maja Vukoje etwa verfremdet ältere Pop-Diven wie Nancy Sinatra oder Diana Ross zu körperlosen Gespenstern in pathetisch überdrehten Bühnenattitüden – als habe sich die Geste vom Leib gelöst. Dagegen untersuchte Margit Emmrich in einem Langzeitprojekt die Selbstinszenierung pubertierender Jugendlicher. Erstmals 1973/74 lud die Leipziger Fotografin Schüler und Schülerinnen ein, sich in selbst gewählten Stellungen vor der Kamera zu zeigen und auch selbst den Auslöser zu betätigen. Knapp vierzig Jahre später wiederholte Emmrich das Experiment. Jetzt traf sie eine mit Smartphone- oder Handykamera aufgewachsene Generation medienkompetenter Menschen, die ganz anders in fotografische Objektive blickt. Abgeklärt, voller Coolness und teilweise schon gelangweilt. Auch Gesten gehen mit der Zeit.