Einst waren die einzigen Exportschlager Württembergs die Württemberger selbst. Viele Auswanderer kämpften gegen widrigste Bedingungen, um in der neuen Heimat zu überleben.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Stuttgart - Zwei Bilder in unserem Familienalbum. Als Kind zog ich es oft aus dem Karton vom Dachboden. Roch an dem schweren geprägten Leder, freute mich an den großen goldenen Frakturbuchstaben, öffnete es. Großtante Fridas Hochzeitsbild von 1928 prangte gleich vorne auf dickem Fotokarton, steifes, weißes Kleid, eleganter Schirm. „Aufgenommen in Brooklyn“, stand darunter. Auf einer der letzen Seiten klebte ein blasses, unscharfes Foto von Tante Irmgard in Neuguinea, umringt von einer Schar dunkelhäutiger Kinder in der Kirche.

 

Ein drittes Bild, eine Erinnerung: auf einer schnurgeraden Landstraße steht eine junge Frau kurz vor einem epileptischen Anfall. Der Konvoi von blauen Lastwagen des Technischen Hilfswerks hat am dritten Tag seiner Reise nach Jalta gestoppt. Deutsche Russlandhilfe im Jahr 1992, ich begleitete sie als Reporter. Der Horizont hängt tief in der ukrainischen Ackerlandschaft. Die Straße ist schlammig von eben getautem Schnee. Wir haben uns verfahren. Unsere Dolmetscherin fragt die junge Frau nach dem Weg. Die beiden gestikulieren. Die junge Frau erkundigt sich, wo wir herkämen. „Göppingen, Deutschland“, erfährt sie. Dann dreht sie die Augen nach hinten, bis man nur noch das Weiße sieht und sackt zusammen. Ihr Begleiter fängt sie auf, bettet sie auf den Boden, unser Arzt springt heraus. „Was ist los?“ In akzentfreiem Deutsch erzählt uns der Mann, ihre Vorfahren stammten auch daher, aus Göppingen. Dahin wollen sie beide wieder zurück. „Wir warten nur noch auf unsere Papiere“, sagt er. Ich starre auf seine zerschlissenen Gummistiefel und abgerissenen Klamotten.

„Natürlich war Württemberg immer ein Auswandererland, aber man kann nur zweimal von einer Auswandererwelle sprechen“, sagt Sabine Holtz, die in Stuttgart eine Professur für Landesgeschichte innehat. Das war in den Hungerjahren 1770/1772 und in den Hungerjahren 1816/17 nach katastrophalen Missernten. Warum verlassen Menschen Haus und Hof, um irgendwo hinter dem Horizont ein Land zu finden, in dem sie leben wollen? „Es ist immer der gleiche Grund“, sagt Sabine Holtz, „weil sie in ihrer Heimat kein Auskommen mehr finden.“

Wissenschaftlich gesprochen sind es also wirtschaftliche Gründe, meist gepaart mit sozialen Gründen, und speziell in Württemberg waren es auch oft religiöse Gründe.

Man hat den Schwaben immer das Reisefieber unterstellt, vermutet, dass die drückenden Verhältnisse oder die Bigotterie die Leute in die Ferne trieb. Man fand heraus, dass die Realteilung der Äcker den Menschen immer weniger zum Leben übrig ließ und Württemberg in die Verelendung trieb. Das alles ist wahr. Aber es gibt noch einen ganz anderen Grund, warum Württemberg ein klassisches Auswandererland geworden ist: Die Württemberger konnten das Land ohne Genehmigung des Landesherren verlassen, wie im Tübinger Vertrag des Jahres 1514 festgelegt worden war. Und die Bürger der meisten anderen deutschen Staaten konnten dies eben nicht.

Und die Schwaben flohen 1770 und 1816 nicht nur vor dem Hunger, sie entflohen auch der Leibeigenschaft, sie flohen vor Soldatenwerbern und sie suchten Gott. Johann Albrecht Bengel, einer der Gründerväter des Pietismus, hatte nach sorgfältiger biblischer Berechnung das Ende der Welt auf den 18. Juni 1836 festgesetzt. Die frommen Schwaben wollten nun in der ersten Reihe sein, wenn Christus zurückkommen und in Jerusalem erscheinen würde. Doch war ihnen der Weg nach Jerusalem durch das Osmanische Reich versperrt: Also versuchten sie, den Kaukasus zu erreichen, oder die Gegend um Odessa, wo sie den Berg Ararat vermuteten, um wenigstens an einer heiligen Stätte zu sein.

Unter dem Begriff „Schwabenzüge“ gingen die Wanderungen nach Osten in die Geschichtsschreibung ein, gefördert von der russischen Krone. Sie trieb die Schwaben aber nicht nur nach Russland, sondern auch in die Woiwodina im ehemaligen Jugoslawien, wo sich so viele ansiedelten, dass das Wort „Schwabo“ im Serbokroatischen noch heute einfach „Deutscher“ bedeutet.

Dazu kamen soziale Gründe für die Auswanderung. Sabine Holtz kennt viele Gemeinden am Neckar, die den Armen die Auswanderung bezahlten, weil es billiger war, die Armen abzuschieben, als ihnen weiter Almosen zu geben. Dann gibt es noch Auswandererwellen von evangelischen Splittergruppen, die sich nicht mit der württembergischen Landeskirche arrangieren mochten. Das waren unter anderem die Rappisten, die im Jahr 1803 in die USA gingen und die Evangelischen Templer, die bis etwa 1944 in mehreren Kolonien in Palästina lebten und heute in Australien zu finden sind.

Das Jahr 1816 bringt die Wende

Das Jahr 1816 ist in der jüngsten Forschung über schwäbische Auswanderer als Scheidejahr benannt, weil erstmals mehr Schwaben nach Nordamerika auswanderten als nach Osten. Damals war es der Ausbruch des Vulkans Tambora im Jahr 1815, der mit einem weltweiten Ascheschleier im Jahr 1816 das berüchtigte Jahr ohne Sommer auslöste. Die Missernte in Europa, das durch die Napoleonischen Kriege zuvor ohnehin ausgeblutet war, trieb die Württemberger in Scharen auf die Auswandererschiffe in die USA. Die Bedingungen waren nichts weniger als entsetzlich durch die fehlende Hygiene und die schlechte Verpflegung. Etwa zehn Prozent der Menschen starben auf der Überfahrt, vor allem Kinder. Auch für die Schwaben in Nordamerika galt, was ihre Landsleute schon in Russland erfahren hatten: dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not, dem Dritten das Brot.

Insofern glichen die Bilder denen von heute, sagt Sabine Holtz. „Auch jetzt ist die Überfahrt mit dem Schiff hoch riskant. Auch jetzt glauben die Leute an ein besseres Leben fern von ihrem Heimatland, und auch jetzt hat sich aus der Not der Auswanderer für andere ein blühender Geschäftszweig entwickelt – wie damals.“

Wir wollen in unserer kleinen Serie das Album der Geschichte aufschlagen und in den kommenden Tagen bis zum 16. Januar vom Schicksal schwäbischer Auswanderer durch die Jahrhunderte erzählen.