Täter und Opfer des NS-Regimes unter einem Dach: die ZDF-Produktion „Das Zeugenhaus“ ist ein überragendes Kammerspiel mit exquisiten Darstellern.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Es ist ein schier unfassbares Stück Zeitgeschichte, das sich da nach Kriegsende in einer Nürnberger Villa zugetragen hat: In der Novalisstraße 24 quartierten die amerikanischen Besatzer von Herbst 1945 bis Ende 1948 mehr als hundert Männer und Frauen ein, die bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als Zeugen aussagen sollten. Ehemalige hochrangige Nazifunktionäre und -offiziere wie etwa der Gestapogründer Rudolf Diels genauso wie der Generalmajor Erwin Lahousen, rechte Hand des Abwehrchefs und Hitler-Gegners Wilhelm Canaris; Görings Privatsekretärin Gisela Limberger wie die französische KZ-Überlebende Marie-Claude Vaillant-Couturier.

 

Abend für Abend saßen sich Täter und Opfer des Naziregimes am Tisch gegenüber und nahmen gemeinsam das Abendessen ein – unter der Ägide von Gräfin Kálnoky, einer aus Thüringen stammenden ungarischen Adeligen, die die Amerikaner damit beauftragten, als Hausherrin diese ungeheuerliche Hausgemeinschaft in Schach zu halten und zu unterhalten.

Höchstleistung der Öffentlich-Rechtlichen

Das ZDF hat mit dem Produzenten Oliver Berben, dem Regisseur Matti Geschonneck und einem exquisiten Darstellerensemble – allen voran Iris Berben, Gisela Schneeberger, Matthias Brandt, Tobias Moretti, Edgar Selge, Udo Samel – diesen „Kulminationspunkt historischer Erfahrung“, so der ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler, in ein überragendes Kammerspiel überführt. Damit ist „Das Zeugenhaus“ im ausklingenden Fernsehjahr einer der leider viel zu seltenen Belege, zu welchen fiktionalen Höchstleistungen die Öffentlich-Rechtlichen in der Lage sind. Im Wettstreit um die Inszenierung von Kriegs- und Nachkriegsstoffen, den sich die Produzenten Oliver Berben (mit Moovie – the art of entertainment) und Nico Hofmann (mit Ufa Fiction) seit geraumer Zeit liefern, kann damit der Sohn Iris Berbens einen Punktgewinn verbuchen.

Die Autorin Christiane Kohl hatte die Existenz des „Zeugenhauses“ 1996 mit einem „Spiegel“-Artikel an die Öffentlichkeit gebracht; knapp zehn Jahre später veröffentlichte die Journalistin ein Buch darüber. Der Bestseller diente Magnus Vattrodt als Grundlage; der Autor entschied sich, „für einen freien Umgang mit dem historischen Material“, um „die historische Geschichte zu verdichten und in dieser Form letztlich auch erkennbar zu machen“.

Hoch explosives Gemisch

Die Personenkonstellation, die die Fiktion vorführt, hat es somit in Wirklichkeit nie gegeben; auch die Figur der Gräfin, gespielt von Iris Berben, ist deutlich von der historischen Wahrheit entfernt: Im Film heißt sie nicht Ingeborg von Kálnoky, sondern Belavar; sie kommt beladen mit einer tragischen Familiengeschichte, deren Qualen sie mit Morphium lindert, in die Rolle der Gastgeberin.

Ein psychologisch-atmosphärisch hochexplosives Gemisch erfüllte die von Kriegsnot gezeichneten bürgerlichen Räume der Nürnberger Villa: geplatzte Hoffnungen, Selbstverleugnung, Verdrängung und Opportunismus ebenso wie Schuldzuweisungen, Bitternis und seelische Zerstörung trafen unter einem Dach aufeinander. Autor und Regisseur schöpfen dieses dramatische Potenzial voll aus und überführen es in pointierte Dialoge, deren Wirkung die Beschränktheit des Orts noch verstärkt. Das Drama überschreitet mit 106 Minuten deutlich die Standard-Fernsehfilmlänge, doch keine Sekunde ist verschenkt.

Hitler „konnte doch kein Blut sehen“

Der Regisseur Matti Geschonneck führt seine herausragenden Darsteller so, dass jeder Charakter in wenigen Zügen Kontur erhält. Die Details ihrer Biografien bleiben im Dunkeln, dem Zuschauer – wie den Hausgenossen – wird nur schrittweise offenbart, mit wem er es zu tun hat. Geschonneck setzt dokumentarisches Material sparsam, aber effektvoll ein: „Wochenschau“-Aufnahmen zeigen die Zeugenaussage der Auschwitz-Überlebenden Vaillant-Couturier und KZ-Leichenberge – zuvor hat Hitlers Leibfotograf Hoffmann (Udo Samel) beim Abendessen in der Villa noch den Holocaust geleugnet, mit der Begründung, Hitler „konnte doch kein Blut sehen“. Ein Moment, der die Abgründe dieses Nürnberger Gästehauses offenbart – und dem Zuschauer den Atem raubt.