Statt im Wahlkampf in Tübingen ist Oberbürgermeister Boris Palmer mal wieder in seinem Wohnzimmer bei Markus Lanz gewesen. Da hat er auch erklärt, was er von Robert Habecks Atom-Notbetrieb hält.

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Formal ruht Boris Palmers Parteimitgliedschaft bei den Grünen ja momentan. Beim ZDF-Talk von Markus Lanz am Dienstagabend war das schon an der Farbe seines Anzugs zu sehen. „Ruhendes Grün“, hatte Palmer gewählt, wie er betonte. Was die grüne Seele so bewegt, die er ja auch deshalb so gut kennt, weil er sie regelmäßig mit seinen Facebook-Kommentaren reizt, konnte er natürlich dennoch gut erklären.

 

Aktuell natürlich Robert Habecks Vorschlag, zwei der drei noch laufenden Atomkraftwerke am Jahresende wie geplant herunterzufahren, aber vorerst als Notreserve für den Winter zu erhalten: Dies sei ein Riesenschritt für die Grünen. „Wer vor 40 Jahren auf Demos gegen Atomkraftwerke gegangen ist, und Wyhl oder Brokdorf verhindert hat, für den ist das schlimm“, sagte der Tübinger OB ungerührt. „Ein Streckbetrieb ist klüger, aber das war zu viel für meine Partei.“

„Natürlich geht es um Ideologie“

An solchen Bekenntnissen hat Moderator Markus Lanz Freude. Ob es also nur um Ideologie ginge, hakte er nach, doch Palmer, der gerade im Tübinger OB-Wahlkampf steckt und vielleicht deshalb als Konzession an seine Wählerschaft in seinen Vortrag auffallend viele schwäbische Sch-Laute einfügte, ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Natürlich gehe es um Ideologie, wie bei allen Parteien und wie immer in der Politik, sagte Palmer.

Die Journalistin Alice Bota, an diesem Abend als Expertin für den Krieg in der Ukraine in der Runde, der die ganze Energieproblematik ja ausgelöst hat, sprang ihm zur Seite: Die Grünen treibe schlicht die Sorge, „dass, wenn sie in dieser Sache nachgeben, dann die FDP reingeht, und die Frage nach der Zukunft der nuklearen Energie neu stellt.“

Atomkraft löst das Preisproblem nicht

Insofern sei Habecks Entscheidung klug, fand Palmer. Er halte sich so die Option offen, im Dezember auf eine mögliche Stromknappheit noch zu reagieren. „Wenn man muss, dann muss man halt.“ Da könne auch die grüne Basis nichts dran ändern.

Allerdings sei der Atomstrom mit seinem Anteil von bundesweit zurzeit sechs Prozent kein „Gamechanger“, um den galoppierenden Preis in den Griff zu bekommen. Der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar erklärte den Marktmechanismus anhand von Äpfeln, bei denen der Preis für alle Äpfel vom teuersten Hersteller (Gaskraftwerk) diktiert wird. Nicht nur berüchtigten Energieriesen, sondern auch Palmers Stadtwerke beschert dies momentan Millionengewinne.

Droht eine Deindustrialisierung?

Zwei Drittel des Tübinger Stadtwerke-Stroms stamme aus Fotovoltaik- und Windanlagen, der jetzt zum Zehnfachen des Herstellungspreises gehandelt werde. Für Palmer ist das kein Grund zur Freude. Statt diese Übergewinne durch eine Zusatzsteuer abzuschöpfen, sei es besser, wenn sie gar nicht erst entstünden. Denn der hohe Preis gefährde den Wirtschaftsstandort. „Es droht eine Deindustrialisierung.“

Das Problem: obwohl überall zum Sparen aufgerufen wird, und jeder bald „gefühlt“ einen staatlichen Kontrolleur im Badezimmer stehen habe, der aufpasse, wie warm und wie lange man dusche (Lanz), wurde zuletzt in Deutschland so viel Gas verstromt, wie noch nie. Der Heidenheimer CDU-Politiker und Militärexperten Roderich Kiesewetter, der in der Sendung nicht nur einen harten Winter, sondern zwei bis drei schwere Jahre voraussagte, konnte sich vor diesem Hintergrund den nahe liegenden Hinweis nicht verkneifen, dass genau hier Atomenergie helfen könnte.

Problem der Kraft-Wärme-Kopplung

Doch so ganz stimmt das wohl auch nicht. Selbst hier hilft ein Blick nach Tübingen. Grund für den hohen Gaskonsum ist nämlich die in den vergangenen Jahr stark ausgebaute Kraft-Wärme-Kopplung. „Wir könnten von heute auf morgen die ganze Fernwärme auf Öl umstellen und damit Gas sparen“, sagte Palmer. Doch der damit einhergehende Wegfall der Stromerzeugung würde für seine Stadtwerke einen Verlust von 25 Millionen Euro bedeuten. So etwas dürfe er als Aufsichtsratsvorsitzender nicht anordnen. „Da wäre ich wegen Untreue dran.“ Die einzige Lösung aus seiner Sicht wäre, die Verluste einer solchen Umstellung auszugleichen, forderte Palmer.

Die Lage ist also vertrackt – auch im Russland-Ukraine-Krieg insgesamt. „Wo ist die Strategie, die langfristig wirkt?“, fragte Yogeshwar, der in einem Brief mit anderen Prominenten einen Weg zu Friedensverhandlungen forderte. In der Runde konnte er seine Position nicht wirklich deutlich machen. Stattdessen unterliefen ihm immer wieder Relativierungen. „Was da passiert ist, ist nicht ok“, sagte er oder sprach von einem Haus, in dem zwei um ein Zimmer stritten, aber (Klimawandel) der Dachstuhl brenne.

Wann gibt es Verhandlungen?

Waffenlieferungen könnten die Diplomatie gefährden. Das habe sie bis Anfang Februar auch geglaubt, sagte Bota. Aber sie habe ihre Meinung geändert, weil ihr schlicht die Argumente ausgegangen seien. Am Ende ging es Yogeshwar zumindest in dieser Debatte ähnlich. Seine Meinung geändert hat er noch nicht. „Es wird Verhandlungen geben, aber dieser Punkt ist noch nicht gekommen“, sagte Bota.