Warum bringen Sie in Ihrer Theorie den Begriff der zunehmenden Entfremdung wieder ins Spiel, der ja über den Stuttgarter Philosophen Hegel zu Karl Marx kam und von ihm ausgebaut wurde?
Entfremdung ist die Beziehung der Beziehungslosigkeit. Das Gefühl, getrieben zu sein und gleichzeitig auf der Stelle zu treten, führt in unserer Gesellschaft inzwischen zu einer hohen Burn-out-Rate. Aber auch viele, die noch gesund sind, haben längst das Gefühl, viel mehr Belastung könnten sie nicht mehr auf sich nehmen. Dabei könnte man doch denken, so viel und so hart arbeiten wir doch gar nicht. Die Erkenntnisse aus der Forschung lauten, dass Burn-Out nicht das Ergebnis von zu viel Arbeit ist, Menschen strengen sich ja eigentlich gerne an. Es ist vielmehr ein Problem, wenn man das Gefühl hat, man müsse jedes Jahr schneller laufen, ohne irgendwo hinzukommen, ohne einen Zielhorizont zu sehen oder ohne eine Nische, in der man sich auch mal ausruhen kann. Menschen, die Burn-out haben, sagen oft, sie hätten das Gefühl, sie arbeiten im luftleeren Raum, es kommt nichts zurück, die Welt wird ihnen stumm. Das ist totale Entfremdung.
Und dagegen hilft eine Entschleunigung?
Ich bin kein Entschleunigungsprophet und extrem unglücklich, wenn ich so etikettiert werde. Denn es geht einerseits nicht, dass wir alles weitermachen wie bisher, nur langsamer. Wir müssten schon etwas an der gesellschaftlichen Grundform ändern. Und Langsamkeit ist auch kein Selbstzweck: Niemand will eine langsame Achterbahn, einen langsamen Notarzt oder ein langsames Internet. Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass das Problem bei der Beschleunigung die Entfremdung ist, und der Gegenbegriff dazu heißt für mich nicht Entschleunigung, sondern Resonanz.
Was genau verstehen Sie unter Resonanz?
Das ist für mich eine Form der Berührung, des Mitschwingens, des nicht verdinglichten Umgangs mit sich selbst und den anderen. Ich fühle mich nicht entfremdet in Situationen, in denen ich das Gefühl habe, dass mich etwas ergreift, wenn ich mich verliebe zum Beispiel, wenn ich mich auf einen anderen, auf Natur oder Kunst einlasse, oder, falls ich religiös bin, eine religiöse Erfahrung mache. Dann ist der Mensch selbstbestimmt, aber nicht entfremdet, weil er in einer Verbindung mit der Welt steht. Das Leben gelingt, wenn man spürt, es bewegt sich was.
Sie selbst kehren alle zwei Wochen in Ihr Heimatdorf Grafenhausen im Schwarzwald zurück? Was klingt dort bei Ihnen an?
Ich bin auf die Beschleunigungsthematik dadurch gekommen, dass ich während meiner Studien- und Arbeitsjahre in London, in Berlin und in New York immer eine große Veränderung in der Zeiterfahrung gespürt habe, wenn ich nach Hause kam. Irgendwie schien sich der äußere und auch der innere Rhythmus umzustellen. Und jetzt gerade bin ich der Frage auf der Spur, welche Differenz es dadurch in der Weltbeziehung gibt. Im Dorf gibt es für mich eine andere Weise des In-die-Welt-gestellt-Seins. Ich nenne Grafenhausen, wo ich durch mein Teleskop in die Sterne gucke, sonntags ab und zu in der Kirche Orgel spiele und den Tennisclub leite, meine Resonanzoase, weil ich da nicht in erster Linie funktionieren muss. Hier werde ich nicht instrumentell gefragt, sondern fühle mich auf andere Weise Dingen verbunden, die ich als Resonanzachsen bezeichne.
Die Beschleunigung hat aber doch auch das Landleben sehr stark erfasst.
Es wäre natürlich eine Illusion zu denken, das Land bliebe davon verschont, zumal wenn die Leute dort wohnen und in der Stadt arbeiten. Wenn man aber Dorf als Lebensraum begreift, dann nehmen die Menschen dort den zeiträumlichen Kontext doch noch mehr als Ganzes wahr. Wenn Sie hingegen in Berlin wohnen, erhöht sich das Lebenstempo ganz einfach deswegen, weil sich der Horizont dessen, was sie als das Ihre begreifen, sich erweitert. Die Weltreichweite verändert sich.
Gerade auf dem Land im Schwarzwald war die Bevölkerung schon früh am Puls der Zeit. Dort wurden seit dem 18. Jahrhundert Uhren hergestellt, durch die eine dauernde Messung der Stunden ja erst möglich wurde.
Der Leiter des Uhrenmuseums in Furtwangen sagte kürzlich, das Zeitalter der Uhren sei vorbei. Das ist ganz interessant, denn Uhren sind heute integriert in Handys, in Computer, sie sind überall um uns und auch in uns. In meinem Zimmer in Grafenhausen habe ich übrigens immer noch eine alte Kuckucksuhr hängen, ein Hochzeitsgeschenk für meine Großeltern. Und mein Vater hat tatsächlich Uhren gesammelt, wahrscheinlich gibt es durchaus einen biografischen Zusammenhang zu meiner Arbeit.