Abdel Sellou war ein Taugenichts. Dann pflegte er einen Millionär. Die Männer wurden im Kino zu „ziemlich besten Freunden“. Ein Wunder, sagt Sellou im Interview.

Berlin - Vor 20 Jahren war Abdel Sellou ein kleiner Gauner aus der Pariser Vorstadt. Er hätte sich totgelacht, wenn ihm jemand folgende Geschichte erzählt hätte: eines Tages wird ein gelähmter Millionär dich als Pfleger anstellen. Du wirst ein glücklicher Mann und ein Filmstar. Es kam aber genau so. Ein Wunder, sagt Sellou im Gespräch mit der StZ in Berlin.

 

Herr Sellou, der Film „Ziemlich beste Freunde“ bezaubert Millionen von Kinozuschauern. Er erzählt Ihre Geschichte – die einer wunderbaren Freundschaft zwischen einem perspektivlosen Underdog und einem behinderten Superreichen. Auf einmal sind Sie berühmt. Wie ist das?
Mich macht es einfach glücklich, dass mein Leben sich durch die Begegnung mit Philippe Pozzo komplett geändert hat.

Dabei waren sie nicht darauf aus, es zu ändern. Als Sie vom Arbeitsamt gezwungen wurden, sich auf eine Pflegerstelle zu bewerben, gingen sie nur hin, um wieder zu verschwinden. Dann trafen Sie den vom Hals gelähmten Pozzo. Als Sie ihn sahen: was dachten Sie da ganz ehrlich?
Naja. Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Zimmer praktisch mit einem Toten. Und der fängt plötzlich an zu reden. Ich dachte, da redet ein Außerirdischer. Ich war einfach sprachlos, schockiert. Was dann mit uns beiden passierte, ist für mich ein Wunder.

Was meinen Sie damit?
Dieser E.T. im Rollstuhl war in jeder Hinsicht anders. Anders als alle Arbeitgeber, die ich je hatte, zum Beispiel. Ich kam da rein und wollte die Unterschrift fürs Arbeitslosengeld. Er weigerte sich zu unterschreiben. Er wollte mich. Ich blieb.

Warum hat er Sie eingestellt? Weil Sie so ehrlich schockiert waren?
Ich glaube, er hatte es satt, dass alle ihm mit einer Maske des Mitleids begegnen. Alle anderen waren so sozial und verständnisvoll. Mir war er völlig egal. Dadurch war ich ganz natürlich, ohne Mitleid, so wie ich bin.

Hatten Sie nicht wenigstens Mitgefühl?
Nein. Das kannte ich als Gefühl gar nicht.

Wenigstens menschlichen Respekt?
Ja, sofort. Das war schließlich die einzige Person, die mich je anders behandelt hat als alle anderen. Er hat mich respektiert.

Sie haben nun Ihre Autobiografie geschrieben. Ihre wahre Geschichte liest sich etwas trostloser, als der Film es zeigt. Sie schildern Ihre Jugend als Einwandererkind in der Banlieue. Sie beschreiben die Zwangsläufigkeit, mit der sich Ihr Leben in die Karriere eines Kleinkriminellen verwandelt. Sie zeigen sich als gefühllosen, groben Klotz.
Ich war jung und blöd. Aber das war es nicht allein. Mein Leben war das vieler Jugendlicher in dieser Situation – ohne Perspektive und voller stupider Routine, zu der es gehörte, dass mich nichts erstaunen oder erschüttern sollte. Aber Pozzo schaffte es, mich zu überraschen.

Sieht so aus, als sei Ihr Geheimnis gewesen, dass Sie seine Behinderung praktisch ignoriert haben. War das auch umgekehrt so: er hat Ihre soziale Behinderung ignoriert?
Dazu hätte er schon blind und taub sein müssen, so wie ich mich aufgeführt habe. Aber wir hatten von Anfang an eine Gemeinsamkeit: Er hatte sein körperliches Handicap, und ich hatte mein soziales Handicap. Wir waren beide nicht normal. Das hat uns verbunden.

Man könnte sagen: Sie haben sich umeinander gekümmert?
Ja, das könnte man.

Sie beide sind sich quasi als Aliens aus zwei Welten begegnet. Haben sich all Ihre Klischees über die Reichen bestätigt?
Ja, total. Die einzige Ausnahme ist Pozzo. Die Leute mit Geld, die ich kennengelernt habe, wollten niemals wissen, wie die Welt außerhalb ihrer Sphären wirklich aussieht. Denen ist es viel lieber, das alles wie durch einen Schleier zu betrachten. Bequemer.

Und wie sah es mit den Klischees aus, die Ihr reicher Freund über Ihre Welt hatte?
Ich hab ihn einfach mitgekommen in die Banlieue. Er wurde nicht überfallen, es ist ihm nichts passiert.

Sie schreiben, Sie hätten zum ersten Mal Freundschaft erlebt.
Ja. Ich habe begriffen, dass man mit diesem starken Wort sehr vorsichtig sein muss.

Auf Französisch heißt der Film „Intouchables“ (Unberührbare), hier läuft er als „Ziemlich beste Freunde“. Ist das gut?
Mich stört das „ziemlich“ ein bisschen. Es gibt irgendwie kein Wort, das diese starke Freundschaft zwischen zwei Leuten, die einander normalerweise total egal geblieben wären, ordentlich bezeichnet.

In welchem Moment wurde aus der beruflichen Beziehung eine Freundschaft?
Es war nie professionell. Das hätte bedeutet: ich mach meinen Kram und dann geh ich nach Hause. Ich mache frei, nehme mir Urlaub. So war es von Anfang an nicht. Ich bin praktisch 15 Jahre lang nicht da weggegangen. Im Prinzip sind wir als Personen miteinander verschmolzen. Ich hab die Zeit meines Lebens eliminiert, die ich als sozial Ausgeschlossener gelebt habe. Und er hat die Jahre eliminiert, in denen er als Behinderter wahrgenommen wurde.

Geht Freundschaft überhaupt in einer solchen gegenseitigen Abhängigkeit? Wenn der eine den anderen braucht, um auf die Toilette zu gehen, und der andere den einen bezahlt und fördert? Wenn man niemals in der Lage ist, auf Distanz zu gehen?
In der Realität war es anders. Die meiste Zeit gab es diese körperliche Abhängigkeit gar nicht, es gab einen medizinischen Stab, der alles gemacht hat. Und für zehn Jahre hab ich nicht mehr verdient, als ich an Arbeitslosengeld bekommen hätte. Was zählte, war, dass wir füreinander menschlich unersetzbar wurden.

Anders als im Film starb in der Realität Philippe Pozzos erste Ehefrau Beatrice in dieser Zeit. Sie gingen gemeinsam durch sehr tiefe Täler. Gab es einen Moment, in dem Sie sich die Frage stellen mussten, ob Sie Ihrem Freund bei der Selbsttötung helfen?
Es gab zweimal eine Zeit der tiefen Depression, die wir gemeinsam erlebt haben. Ich hoffe, sonst habe ich ihm nicht die Zeit gelassen, darüber nachzudenken.

Wie konnten Sie sich aus dieser engen Beziehung entfernen?
Ich bin ja nie weggegangen. Unser beider Leben hat sich einfach geändert. Er hat seine zweite Frau gefunden, die sich um ihn kümmert, ich hab ebenfalls geheiratet. Aber an unserer Beziehung hat sich nichts verändert. Wie sehen uns häufig, machen Urlaub, er ist für mich immer noch eine Art von Vaterfigur und Berater.

Was ist das Wichtigste, das Sie mitnehmen?
Dass ich der werden konnte, der ich heute bin. Der Abdel von vorher wurde für immer eingesperrt. Dem wäre es niemals gelungen, von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Man muss aber auch bereit sein, sich zu verändern.