Ist Inklusion eine Illusion? Diese These ist in der Schullandschaft derzeit nicht mehrheitsfähig. Karl-Christoph Herrmann, der Rektor der Strohgäuschule, vertritt sie dennoch. Der Sonderschulpädagoge wirbt um einen geschützten Raum für Schüler mit Lernbehinderung.

Korntal-Münchingen - Theaterprobe im Widdumhof. Auf der Bühne läuft gerade die Szene vier aus dem Stück „Dumm gelaufen“. Lehrerin Cornelia Peters, die Autorin des Stücks, steht am Bühnenrand. Ab und zu muss die Leiterin der Theater-AG der Strohgäuschule der Hauptdarstellerin soufflieren. Aber nur während der längeren Sprechpassagen. Die Akteure, die Pause haben, sitzen auf ihren Stühlen. Kein Getuschel, kein Gerenne – die zwölf Schüler der Sonderschule für Lernförderung sind konzentriert.

 

Ebenfalls im Zuschauerraum sitzt Karl-Christoph Herrmann, der Rektor der Strohgäuschule. Er ist zufrieden mit dem, was er auf der Bühne sieht. Damit meint Herrmann nicht nur den Stand vor der Premiere. „Dass unsere Schüler so bei der Sache sind, ist nicht selbstverständlich“, sagt er. Niemals würden Sonderschüler so viel Konzentration aufbringen, wenn sie nicht ein hohes Maß an Vertrauen in ihre Lehrerin hätten. Wenn nicht der Schutzraum für sie da wäre, langsamer sein zu dürfen, mehr Ansprache zu bekommen. Herrmann glaubt nicht, dass die Schüler der Strohgäuschule an anderen Schulformen solche Leistungen bringen könnten. Auch nicht an einer Gemeinschaftsschule, wird Herrmann konkret. „Wir als Pädagogen erleben eine sehr spannende Entwicklung“, formuliert er vorsichtig und wird dann doch deutlicher: „Man weiß in der Schulpolitik gerade nicht, wohin man will, aber das mit aller Entschlossenheit.“

„Wir machen uns Sorgen, was aus unserer Schulart wird“

Inklusion und Gemeinschaftsschule sind Schlagworte, mit denen sich derzeit alle Kommunen im Land beschäftigen – von Herbst an auch Korntal-Münchingen in der Schulentwicklungsplanung. Herrmann schätzt die Stadt als Schulträger, der sich für seine Sonderschule positioniert. Doch angesichts der Großwetterlage, sagt er: „Wir Sonderschulpädagogen machen uns Sorgen, was aus unserer Schulart wird.“

Im Strohgäu gibt es an mehreren Schulen Außenklassen. In der Hirschlander Theodor-Heuglin-Schule werden seit vielen Jahren behinderte Schüler inklusiv beschult. Sperrt man sich an der Strohgäuschule gegen die Lehrmeinung der Pädagogik, womöglich nur, um den Fortbestand der Schule zu sichern? Herrmann findet: „Über den Lernerfolg eines Schülers entscheiden nicht immer neue didaktische Purzelbäume. Entscheidend ist gerade für Förderschüler eine enge persönliche Beziehung von Schüler und Lehrer.“

Inklusion ist an der Strohgäuschule kein Thema

Herrmann und sein zehnköpfiges Kollegium haben sich bislang nicht auf das Thema Inklusion eingelassen – wollen dies auch künftig nicht. „Ich weiß, dass ich mit dieser Position als Sonderschulleiter ziemlich alleine in der Region dastehe“, sagt Herrmann. Doch er hält die Idee der Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft schlicht für eine Illusion. „Unsere Gesellschaft ist noch längst nicht fähig dazu“, sagt er, und fragt: „Wo in der Behindertenrechtskonvention steht, dass es keine Sonderschulen geben darf?“ Behinderte Menschen hätten nicht nur Recht auf Teilhabe, sondern auch ein Recht auf einen geschützten Raum.

Als Beleg für seine Argumentation verweist Herrmann auf seine Erfahrung. Kooperationsprojekte mit anderen Schulformen hätten ihn zwar nicht desillusioniert, aber doch „geerdet“. Lehrer von Außenklassen sind seiner Auffassung nach oft Reisende zwischen den Welten, in keinem Kollegium verhaftet. „Das gleiche gilt für die Schüler von Außenklassen.“ Auch sie gehörten nirgends richtig dazu. Die Strohgäuschule mit ihren 70 Schülern, eher eine der kleineren Sonderschulen für Lernschwache, sei, „auch wenn es abgedroschen klingt“, wie eine große Familie.

Doch jeder muss seine Familie, seine Schutzhülle eines Tages verlassen. „Das ist richtig“, sagt Herrmann. Er und sein Kollegium finden aber, dass ein geschützter Raum, in dem die Sonderschüler Selbstbewusstsein aufbauen können, diesen Schritt besser vorbereitet.