Zum Tod der Sängerin Annie Ross Singen wie ein Saxofon

Jazz sei wirre Musik? Annie Ross kloppte dieses Vorurteil in die Tonne. Sie sang mit Worten nach, was große Solisten gespielt hatten. Schon war alles auch für Popfreunde viel verständlicher.
Stuttgart - Als der große amerikanische Filmemacher Robert Altman 1993 die Erzählungen von Raymond Carver zu einem seiner besten Filme überhaupt verarbeitete, „Short Cuts“, brauchte er auch an zentraler Stelle eine Jazzsängerin. Er entschied sich für die gebürtige Britin Annie Ross, aber nicht nur, weil Ross bereits Erfahrung als Schauspielerin in Hollywood (u. a. „Superman II“ und „Schmeiß die Mama aus dem Zug“ mitbrachte. Ross kannte wie ihre Filmfigur die Aufs und Abs des Gewerbes, vor allem aber war sie seit Jahrzehnten die Vertreterin eines besonderen Musikverständnisses: unterhaltsam aber herausfordernd, zugänglich, aber ideenreich.
Alles mal mit Worten sagen
Mit zwei Jahren schon war die 1930 in London geborene Ross von ihren Eltern, einem Entertainer-Paar, auf die Bühne von Unterhaltungsschuppen geholt worden, mit vier kam sie das erste Mal in die USA und trat im Radio auf. Ihr Herz aber gehörte später aber nicht der Musik, die garantiert alle zum Mitklatschen brachte, sondern dem zeitgenössischen Jazz. Wie einige andere Liebhaber dieser Musik fand sie es Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger schade, dass immer mehr Menschen die neueren Jazz-Stile als zu kompliziert oder wirr empfanden. Wenn die Ideenketten der großen Solisten Worte hätten, wenn sie gesungen würden - dann könnten die Leute besser folgen.
1952 bekam Ross, die nun vier Tage vor ihrem 90. Geburtstag gestorben ist, am dann von Bob Weinstock, dem, Chef des Labels Prestige, den Auftrag, ein Jazzsoli zu verworten. Vocalese hieß dieses Verfahren, das der schwarze Sänger King Pleasure in Jazzerkreisen populär gemacht hatte. Ross lieferte über Nacht ihre Variante von Wardell Grays Saxofonsolo in „Twisted“, durfte damit ins Studio und landete einen Hit bei Hipstern, Beatniks und sonstigen freudigen Abweichlern vom Mainstream.
Schwarz-weißes Trio
Zwischen 1957 und 1962 nahm Ross dann ihre wichtigsten LPs auf, die Jazzgeschichte schrieben – mit den Sängern Dave Lambert und Jon Hendricks. Die Gruppe Lamberts, Hendricks und Ross lieferte nicht einfach großartige Vocalese-Nummern, sie brach dem alten Vorwurf, Weiße würden sich im Jazz schwarze Ideen klauen und damit größere Erfolge als die Urheber einfahren, die Spitze ab. Lambert und Ross waren weiß, Jon Hendricks schwarz, und wie sie da auf ihren Covern standen, das war – wie das In- und Miteinander der Stimmen auf den Songs – auch ein gesellschaftliches Statement. Dass sich die Drei auf Dauer nicht miteinander vertrugen, spiegelte dann unfreiwillig die Mühen auf dem Weg zur faireren Gesellschaft.
Die späteren Alben von Annie Ross – witzig und keck, neckisch und entspannt, lebenserfahren und spöttisch – wurden viel zu wenig beachtet. Der kurze Schub, den ihre Diskografie durch „Short Cuts“ erhielt, ist lange her. Aber in der Welt des Musikstreamings muss eben niemand mehr, der nun neugierig geworden ist, im dunkelsten Winkel Gebrauchtplattenläden durchwühlen. Man kann Annie Ross mit ein paar Mausklicks kennenlernen – und schon nach ein paar Takten ihrer Musik hat man das Gefühl, einer interessanten neuen Freundin zuzuhören.
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