In den Jahren des Immobilienbooms vergaben spanische Banken Hypothekenkredite ohne jedes Maß – jetzt werden Hunderttausende von Spaniern zwangsgeräumt. Proteste haben nun die Politik aufgeschreckt.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Madrid - Eingemummelt in eine Decke und eine dicke Jacke sitzt Gladys Cerna auf einem Sofa, das hier eigentlich nicht hingehört. Seit fünfeinhalb Wochen steht es auf dem Bürgersteig vor der Bankia-Zentrale in der Madrider Innenstadt, darüber spannen sich dunkelgrüne Plastikplanen, und davor sind ein paar Klapptische aufgebaut. Ein kleines Protestlager gegen Bankia und all die anderen spanischen Banken, die in den Jahren des Immobilienbooms Hypothekenkredite ohne jedes Maß vergaben – und jetzt die Zahlungsunfähigen unter ihren Kunden zu Hunderttausenden aus ihren Häusern verjagen. Cerna ist eine von ihnen.

 

Die 49-jährige Gladys Cerna stammt aus Peru, seit 15 Jahren lebt sie in Spanien. Sie fand Arbeit in einer Restaurantküche, verdiente 1000 Euro im Monat und mit Überstunden noch etwas mehr. Gemeinsam mit ihrem Partner kaufte sie sich im Februar 2007, auf dem Höhepunkt des Immobilienbooms, eine 78-Quadratmeter-Wohung in einem Kleine-Leute-Viertel von Madrid. Acht Monate später zog sie sich bei einem Sturz während der Arbeit eine Rückenverletzung zu, die sie dauerhaft arbeitsunfähig machte. Kurz darauf verlor ihr Partner erst seinen Job und dann seine Aufenthaltsgenehmigung, er kehrte nach Peru zurück und ließ Cerna mit ihren Schulden allein.

Die Bank hat noch 77.000 Euro draufgeschlagen

Cerna fühlt sich zu allem Unglück von ihrer Bank „betrogen“. Der Kaufpreis ihrer Erdgeschosswohnung in einem 40 Jahre alten Haus betrug 210 000 Euro, doch sie musste einen Hypothekenkredit über 277 000 Euro aufnehmen. Cerna hat bis heute nicht verstanden, was es mit diesem Differenzbetrag auf sich hat. „Beim Notar musste alles ganz schnell gehen“, erzählt sie. „Los, los, die nächsten warten schon“, bekam sie zu hören. Erst hinterher begriffen sie und ihr Partner, was sie unterschrieben hatten: 1200 Euro monatliche Rate.

Schließlich konnte sie ihre Hypothekenraten nicht mehr zahlen. 2011 begann das Zwangsvollstreckungsverfahren gegen sie. Vor drei Monaten sollte ihre Wohnung versteigert werden. Soweit sie weiß, fand sich kein Käufer. Am Ende wird sich die Bank die Wohnung zu einem Preis weit unter dem damaligen aneignen, und Cerna wird auf ihren Restschulden sitzen bleiben, immer bedroht von der Zwangsräumung.

Zahlen der spanischen Justizverwaltung zufolge sind zwischen 2007 und 2011 rund 350 000 Zwangsvollstreckungsverfahren wegen unbezahlter Hypotheken in Gang gesetzt worden. „In den meisten Fällen geht es um den Erstwohnsitz“, sagt Ada Colau von der Plattform der Hypothekenbetroffenen (PAH), die sich für Familien einsetzt, die vor der Zwangsräumung stehen. In 87 Prozent der betroffenen Familien gibt es mindestens ein Kind.

Die PAH hat immer wieder Anhänger mobilisiert, die sich vor Hauseingängen versammeln, um Zwangsräumungen zu verhindern – in rund 500 Fällen mit Erfolg. Zudem haben Dutzende von Richtern ihre Stimme gegen die gängige Praxis erhoben. „Die Zwangsvollstreckung ist legal, aber sie ist nicht gerecht“, sagt beispielsweise die Richterin Gemma Vives aus Barcelona. „Wenn jemand seine Wohnung verliert, verliert er seine Würde, den Zufluchtsort.“



Ein Selbstmord hat die Politik schließlich aufgeschreckt. Eine frühere sozialistische Ratsfrau aus Barakaldo bei Bilbao stürzte sich Anfang November in den Tod, während der Gerichtsvollzieher gerade die Treppen ihres Hauses hinaufstieg. Das Dekret, das vor Kurzem vom spanischen Parlament mit den Stimmen der konservativen Volkspartei und einer kleinen rechtsliberalen Partei abgesegnet worden ist, sieht einen Aufschub der Räumungen um zwei Jahre vor, wenn eine Reihe von Bedingungen erfüllt sind: Betroffene dürfen nicht mehr als 19 200 Euro im Jahr verdienen, und ihre Hypothekenraten müssen mindestens die Hälfte ihres Nettoeinkommens aufzehren. Außerdem müssen noch andere Umstände hinzukommen: etwa dass in der Familie ein Behinderter oder ein Kind unter drei Jahren lebt. 120 000 Familien könnten diese Bedingungen erfüllen.

Doch die Schulden bleiben. Die Betroffenen kommen niemals mehr hoch. Diesem Schicksal will die Peruanerin Gladys Cerna entkommen. Sie will die Bank davon überzeugen, ihr die Wohnung zur Miete zu überlassen. Oder es kommen die Hausbesetzer. Die „stillen Hausbesetzungen“, wie sie Ada Colau nennt, sind einer der Auswege für die aus ihrem Heim Vertriebenen. Andere ziehen zu Freunden. Gleichzeitig stehen mindestens 700 000 Neubauwohnungen in Spanien leer.