Die Grimm’schen Märchen sind Lug und Trug. Ihre angebliche Tradition ist reine Erfindung. Ihre Originalität Plagiat. Ihre Authentizität freche Anmaßung. Ihr berühmter Märchenton auch nur ein Produkt literarischen Sounddesigns, ausgeheckt von zwei Stubenhockern, im Ohr den Tritt von Siebenmeilenstiefeln. Ihr Trick besteht in der Präsentation des ganz Neuen im Gewand des Uralten: Smartphones in Bakelitoptik. Ihrer ersten Auflage – 900 Stück wurden gedruckt –, war denn auch kein Erfolg beschieden. Erst als Wilhelm die Texte so stark entschärft und korrumpiert hatte, dass fast nichts übrig blieb, und nebenbei auch noch so etwas wie die bürgerliche Kindheit erfand, stellte sich ein Markt ein. Kein Buch passt besser zur Bundesrepublik Deutschland mit ihren erfundenen Traditionen, ihren unter dem Deckmantel des Umdenkens gelebten Kontinuitäten und ihrer frech angemaßten Souveränität. Wer in sie hineingeboren worden ist, lebt auf Leichenbergen: der in den Lagern Ermordeten, der an den Fronten Gefallenen, der im Bombenhagel in den Städte Verbrannten. Doch wer Grimms Märchen kennt, weiß: hinter den sieben Bergen ist es nicht anders. Im Tümpel lebt ein Eisenhans; der goldene Ball im Brunnen hatte einen Vorbesitzer; trau keinem Schwan. Ich liebe beide, die Märchen und das Land. Ihre Lügen kenne ich genau und nehme sie für bare Münze.