Melissa Knödler kommt in letzter Zeit fast täglich an ihre Grenzen, oft auch weit darüber hinaus. Und das, obwohl sie gerade in einer ganz besonderen Lebensphase ist. Denn die 43-Jährige hat Zwillinge bekommen und ist auch mehr als glücklich über ihr süßes Pärchen. Theo und Isabell, deren richtige Namen sie lieber nicht in der Zeitung lesen will, sind jetzt vier Monate alt. Anfangs war alles ganz normal. Die Kleinen haben sich gut entwickelt, und die anfänglichen Probleme haben sich nach und nach gelegt. „Es hat sich alles eingependelt mit dem Stillen und auch sonst. Man wächst ja erst langsam rein in so eine Situation rein, besonders mit Mehrlingen.“
Eine Sache ist nicht besser, sondern eher schlimmer geworden
Nur eine Sache ist nicht besser, sondern eher schlimmer geworden. Baby Theo schreit bei jeder Gelegenheit und lässt sich dann auch nicht mehr beruhigen. Beim Essen, beim Schlafen, in fremden Situationen oder wenn der Kleine unbekannten Stimmen oder Gerüchen ausgesetzt ist – plötzlich und ohne Vorwarnung fangen die Schrei- und Panikattacken an, die sich bis ins Unerträgliche steigern und teils eine Stunde am Stück andauern können. „Das geht von null bis Achthundert. Wenn man es im Vorfeld nicht mehr abgewendet bekommt, dann kann es sich bis zum Lärmpegel eines Düsenjets steigern“, erklärt Melissa Knödler, die sich genau wie ihr Mann große Sorgen gemacht hat, was dem einen Zwilling fehlen könnte und ob er vielleicht schlimme Schmerzen hat.
Erst das Sozialpädiatrische Zentrum im Stuttgarter Olgahospital konnte helfen
Erst das Sozialpädiatrische Zentrum im Stuttgarter Olgahospital – umgangssprachlich die Schreiambulanz – konnte Melissa Knödler und ihrem Mann helfen beziehungsweise erklären, was ihrem Baby fehlt. Nämlich gar nichts. „Die haben uns ganz toll geholfen und nach einem körperlichen Check erklärt, dass es eine Regulationsstörung ist und das Schreien keinen schlimmen Grund hat, sondern eine Überreizung ist und einfach ausgehalten werden muss.
Dass sie recht schnell einen Termin im Kinderkrankenhaus Olgäle bekommen hatten, lag laut Melissa Knödler an der Privatversicherung des Familienvaters. „Wir brauchten eine Überweisung des Kinderarztes, bei dem wir oft sind, und der uns sehr hilft. Aber die Schreiambulanz war voll. Erst durch die Privatversicherung, bei der über meinen Mann auch die Babys versichert sind, ging es voran und wir bekamen einen schnelleren Termin.“
Der Versicherungsstatus war schon mal ein rettender Anker. Denn als Melissa Radocaj – wie sie damals noch hieß – im fünften Schwangerschaftsmonat anfing, nach einem Kinderarzt für ihre Babys zu suchen, wurde das schnell zum Albtraum, wie unsere Zeitung berichtete. Eine Absage folgte auf die nächste. Überall – bestimmt mehr als 50-mal bis Stuttgart und Plochingen – habe sie das Gleiche zu hören gekriegt: „Entweder hieß es, dass die Praxis aktuell voll sei, oder dass es generell im Kreis Aufnahmestopps gebe.“
Für die gebürtige Stuttgarterin brachte damals ihr Mann, genauer gesagt seine Privatversicherung, die Wende. Denn fast genauso oft wie den Tipp, bei Problemen doch die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) anzurufen, durfte sie sich die Frage anhören, ob sie gesetzlich oder privat versichert sei. „Wenn ich gesagt habe, dass ich gesetzlich versichert bin, war direkt Schluss mit dem Telefonat. Oft lief auch erst mal ein Band. Man musste den Versicherungsstatus angeben und wurde erst dann verbunden.“ Als sie schließlich entschieden, die Zwillinge dann eben über ihren Mann privat versichern zu lassen, war es plötzlich kein Problem mehr, und ich fand einen Arzt in Weinstadt.“ Ein Phänomen, das Kai Sonntag, KVBW-Sprecher, einen Einzelfall nennt. „Wir haben nicht das Gefühl, dass bei Kinderärzten nur noch Privatpatienten genommen werden. Aber die Praxen sind überfüllt, und letztlich entscheiden die Ärzte, wen sie aufnehmen“, sagt Sonntag.
Im Olgahospital sieht man keinen Zusammenhang zur Privatversicherung
Im Fall des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) sieht auch der Pressesprecher des Klinikums Stuttgart keinen Zusammenhang zwischen der Privatversicherung der Zwillinge und einem früher möglichen Behandlungstermin. „Im SPZ wird kein Unterschied gemacht zwischen gesetzlich und privat versicherten Patienten. Damit sind auch die Wartezeiten gleich“, sagt Stefan Möbius.
Egal, was den Termin beschleunigt hat: Melissa Knödler war einfach froh, endlich an geeigneter Stelle Hilfe zu erhalten. Auch wenn sie von den Experten, die sich im Olgahospital unter anderem um auffällige Babys und ihre verzweifelten Eltern kümmern, jetzt weiß, dass keine Krankheit hinter dem Schreien steckt, ist sie doch oft hilflos und kämpft mit den Tränen und dem Schlafmangel. „Wir versuchen es durch Reize wie Kälte oder ein Geräusch zu durchbrechen. Oder wir halten ihn so, dass er Entspannung findet. Aber oft können wir ihn einfach nur begleiten und es zusammen aushalten. Heißt, wir nutzen Ohropax und sind für ihn da.“ Nähe und Stillen seien das Einzige, was irgendwann für Beruhigung sorge.
Melissa Knödler muss auch mal den Raum verlassen und durchschnaufen
Melissa Knödler muss auch mal den Raum verlassen und durchatmen. Soziale Kontakte sind längst zum Erliegen gekommen, aus dem Haus kann sie auch kaum. „Das ist mit zwei Babys logistisch schwierig, und wenn ich ins Café gehe und Theo loslegt, ist es leer gefegt und ich versinke vor Scham.“ Deshalb versucht sich die Familie so viel Hilfe wie möglich zu holen, beispielsweise durch die Frühen Hilfen – ein freiwilliges und niedrigschwelliges Beratungs- und Unterstützungsangebot des Kreises. „Viele trauen sich nicht, weil das Thema mit Scham besetzt ist. Der gesellschaftliche Druck, man könne als Mutter versagen, ist groß. Dagegen muss man angehen“, sagt die 43-Jährige.
Exzessives Schreien in den ersten Lebensmonaten
Störung
Frühkindliche Regulationsstörungen liegen vor, wenn der Säugling sein Verhalten in verschiedenen Situationen nicht angemessen regulieren kann. Solche Regulationsstörungen äußern sich durch exzessives und teils sehr lautes Schreien, Schlafstörungen oder Fütterprobleme. Dies kann bei Eltern wie Kind zu chronischen Erschöpfungszuständen führen und letztlich die Beziehung erheblich belasten. Ein veralteter Begriff für diese sogenannte Regulationsstörung ist übrigens Dreimonatskolik.
Anfälle
Zu den Auffälligkeiten gehören neben übermäßigem Schreien auch starke Unruhezustände. Das Kind ist nicht in der Lage, sich selbst ausreichend zu beruhigen. Der Säugling erscheint überreizt und quengelig. Die Attacken brechen ganz plötzlich, oft ohne jeden erkennbaren Grund über die Eltern herein. Leitsymptome sind anfallsartig auftretende Unruhe und Schreiepisoden, fehlendes Ansprechen auf Beruhigungshilfen, kurze Tagschlafzeiten mit ausgeprägten Einschlafproblemen und verminderter Gesamtschlaf. Als Faustformel für das exzessive Schreien gilt die Dreier-Regel: Durchschnittliche Schrei-/Unruhedauer von mehr als drei Stunden am Tag, mindestens drei Tage die Woche über mindestens drei Wochen.