Rückblick Höhepunkte des Literaturjahrs 2019
Was war wichtig? Welche Romane sollte man nicht versäumt haben? Wir lassen die wichtigsten Momente des literarischen Lebens des vergangenen Jahres noch einmal Revue passieren.
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Unterwegs zur Buchmesse: Die norwegische Kronprinzessin mit ihrer mobilen Bibliothek im Lesezug.
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Im Januar erschien Michel Houellebecqs neuer Roman „Serotonin“. Mit einem schrillen Bekenntnis zum US-Präsidenten Donald Trump hat er zuvor schon die Werbetrommel gerührt. Provokation gehört zu seinem Geschäft, fragwürdige Kulturkritik auch. Ein weiteres Mal schickt der französische Autor einen jener larmoyanten, vor allem um die eigenen erektilen Fähigkeiten besorgten Weltschmerzexzentriker auf Reisen durch die seelischen Krisengebiete unserer Zeit. Und wieder ist daraus ein großes Buch geworden. Die Schöpfung eines Romanciers kann klüger sein als er selbst und seine Helden. Man muss nur wissen, damit umzugehen.
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Zu Beginn des Jahres tobt der Streit über den neuen Roman von Takis Würger. „Stella“ wird zum Buch der Stunde – nicht weil es so gut, sondern weil es so schlecht ist. Takis Würger greift in seinem Roman die Geschichte der Stella Goldschlag (Foto) auf, einer jüdischen Gestapo-Gehilfin, die hunderte Juden an die Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten ausgeliefert hat, um ihre Eltern vor dem Konzentrationslager zu retten. Die eigenwillige Anverwandlung des Stoffs spaltet Kritiker und Leser. Je rigoroser die einen Vergehen gegen die Gedächtniskultur in einer Zeit aussterbender Augenzeugen anprangern, desto neugieriger werden die anderen. Am Ende steht ein einigermaßen verdatterter Autor etwas ratlos seinem überragender Bestsellererfolg gegenüber.
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Dieses Buch ist ein Albtraum. John Lanchester blickt voraus in eine Zukunft, in der die Küsten Großbritanniens von einem hohen Schutzwall umgeben sind. Zum Erwachen aus einem Albtraum gehört die Erleichterung. Hier ist das anders. Legt man „Die Mauer“ aus der Hand, um sich der Gegenwart zuzuwenden, hat man den Eindruck, die Geschichte geht jetzt erst richtig los.
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Im Mittelpunkt von T.C. Boyles neuem Roman steht ein Kreis junger experimenteller Harvard-Psychologen. Sie untersuchen, ob man in den Weiten Bewusstsein nicht all das finden kann, was man in der Wirklichkeit vergeblich sucht, Gemeinschaft, Erfüllung, Gott – die große Erleuchtung. „Licht“ erzählt die Geburt der Hippie-Bewegung aus dem Geist von LSD: eine Chronik berauschender Ereignisse, zugleich die Studie eines großen Experiments und ein in kräftigen Farben leuchtender Bildungsroman über zusehends verwirrte Gottsucher, die von ihrer sakramentalen Speisung einfach nicht genug kriegen können.
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Julian Barnes führt ein ungleiches Liebespaar aus den privilegierten Höhen der Londoner Upperclass hinab in die Hölle des Alkoholismus. Wo alles zerfällt, bleibt nur, daran zu erinnern, dass es sich bei den noch so kläglichen Resten um die Bestandteile der „Einzigen Geschichte“ handelt, aus denen ein Leben besteht. In Zwiesprache mit dem Leser setzt der Erzähler sie zu einem meisterhaften Roman zusammen. Je tiefer sich darin die schmerzhaften Risse und Bruchstellen abzeichnen, desto klarer schimmert die Flamme einer großen Passion hindurch.
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Hermann Hesse (zweiter von links) reitet aus: So unbeschwert ging es im Marbacher Literaturmuseum der Moderne schon lange nicht mehr zu: Die erste Ausstellung unter der Ägide der neuen Direktorin des Deutschen Literaturarchivs, Sandra Richter, widmet sich dem Lachen und dem Kabarett – und schlägt einen völlig neuen Ton an.
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Geschichten über Konflikte und feine Distinktionen im grünen Aufsteiger- und Selbstverwirklichungsmilieu gleiten leicht in fade Satiren und larmoyante Klagen ab. Nicht bei Anke Stelling. Ihr mit dem Leipziger Buchpreis geehrten Roman „Schäfchen im Trockenen“ handelt von einer Großfamilie im Berliner Aufsteigermilieu. In einer unprätentiösen, aber präzisen Sprache, mit lebendigen Dialogen, plastischen Szenen und geschickt platzierten Rückblenden erzählt die Autorin über Herkunft, Alltag und Träume einer überforderten Mutter zwischen Beruf und Kindererziehung. Das funktioniert auch auf der Bühne, zum Beispiel am Schauspiel Stuttgart.
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Sexroboter, Drohnen, debile Volldeppen – am Ende haben selbst die künstlichen Intelligenzen Mitleid: Sibylle Bergs grandioser Roman „GRM“ zerstreut die letzte Hoffnung, die Welt könnte ein in sich gegründetes vernünftiges Ganzes sein.
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Akademischer Diskurs trifft auf literarische und künstlerische Fantasie: Das Festival „Membrane – African literatures and ideas“ hat ein Afrika-Bild jenseits aller Klischees vermittelt. Vier Tage lang kamen über vierzig Schriftsteller, Philosophen, Comic-Zeichner, Videokünstler, Fotografen, Musiker und Tänzer in Stuttgart zusammen, aus Nigeria, Somalia, Kamerun, Madagaskar, Ruanda, Burundi, Senegal, Kongo, Ghana, Eritrea und Mali, aber auch aus Berlin, Paris, Brüssel, London, New York und Kanada - ein Ereignis.
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Als wäre er dabei gewesen: Der Schriftsteller Arno Geiger hat in „Unter der Drachenwand“ ein eindrucksvolles literarisches Panorama des Kriegs gezeichnet. Seinen Roman vergleicht er mit einem erfundenen Haus mit echten Fenstern und Türen. Bei dem Lesefestival „Stuttgart liest ein Buch“ hatte man Ende September über eine Woche lang die Gelegenheit, die einzelnen Zimmer und Winkel genauer zu erkunden.
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Der in Bosnien geborene, in Heidelberg zum Schriftsteller gewordene und in Hamburg lebende Sasa Stanisic reiht kleine Prosastücke, Erinnerungsfetzen, Notizen, essayistische Miniaturen locker aneinander. „Herkunft“ ist eine Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit und der Wiedergeburt des jugoslawischen Vielvölkerstaats in einer Heidelberger Aral-Tankstelle. Gegen nationalistische Herkunfts- und Identitätsphantasmen orientiert sich Stanisic am Fantasy-Fach. „Choose your own adventure“. Welchen Verlauf die Geschichte nimmt, entscheidet der Leser. Die Jury des Deutschen Buchpreises entscheidet, dass „Herkunft“ der beste Roman des Jahres sei.
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Unter dem Motto „Der Traum in uns“ absolvierte das verglichen mit seiner reichen Literatur kleine Norwegen einen sympathischen Auftritt als Gastland der Frankfurter Buchmesse. Der gesamte literarische Hochadel des Landes ist gekommen, diesem Traum zum Ausdruck verhelfen: neben Karl Ove Knausgard, Tomas Espedal, Dag Solstad, Jo Nesbo, Jostein Gaarder, Maja Lunde, um nur die wichtigsten und bekanntesten der insgesamt hundert Abgesandten aus dem Gefolge des Lesezugs zu nennen, der von der Kronprinzessin Mette Marit (Foto, mit Kronprinz Haakon) persönlich angeführt worden ist.
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Ein vietnamesisches Migrantenschicksal im Rostgürtel Amerikas. Das Debüt des amerikanisch-vietnamesischen Autors zählt zu den großen Entdeckungen diesen Jahres. „Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist Familienalbum und Essay, Liebeserklärung an und Requiem auf die exzentrische Großmutter und den Freund, der früh an seiner Drogensucht starb. Und eine scharfsinnige Reflexion auf den amerikanischen Traum aus dem Blickwinkel eines ungeliebten Träumers. Kein Werk jugendlichen Auftrumpfens, sondern ein erstaunlich reifes Buch voller Demut, Melancholie und Poesie.
Foto Foto: © Sebastião SALGADO
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Mit dem 1944 im brasilianischen Aimorés geborenen Fotografen Sebastiao Salgado erhält in diesem Jahr ein Fotograf den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Seine Bilder kämpfen in expressivem Schwarz-Weiß für soziale Gerechtigkeit und Frieden und verleihen der weltweit geführten Debatte um Natur- und Klimaschutz eine Anschaulichkeit, der man sich nicht entziehen kann. Unser Bild stammt aus der im Taschen Verlag erschienenen Neusausgabe von „Gold“ (212 Seiten, 50 Euro).
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Zurück in Gilead, dem Unterdrückungsstaat von Margaret Atwoods Erfolgsroman „Der Report der Magd“. Noch immer führt die verseuchte Umwelt zu Unfruchtbarkeit der meisten Frauen. Noch immer gibt es jenes „rassenhygienische“ System zur Erhaltung der Elite, noch immer finden Säuberungswellen und öffentliche Prozesse statt. Und doch hat Margaret Atwood mit den „Zeuginnen“ ihre Dystopie näher an unserer Gegenwart herangeführt, auch im Stil, etwa wenn sie die Handlungsstränge im Stil eines rasanten Spionagethrillers miteinander verknüpft.
Foto picture alliance / Markus Scholz
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Büchnerpreis für Lukas Bärfuss: Die Durchdringung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mit der Frage, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet, verbindet den in Zürich lebenden Schriftsteller mit dem in derselben Stadt gestorbenen Mediziner Georg Büchner. Wie dieser untersucht auch der in seinem Namen Geehrte in brillanter Gedankenklarheit das Wechselspiel biologischer Tatsachen und sozialer Beziehungen. Aus den Diskursschmieden unserer Tage angelt der allseits beschlagene Autor ein heißes Eisen nach dem anderen heraus.
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Mit dem Schiller-Gedächtnispreis, der im November an Nino Haratischwili in Stuttgart verliehen wurde, reiht sich die 1983 im georgischen Tiflis geborene Autorin ein in die einschüchternde Ahnengalerie der Frischs, Dürrenmatts, Handkes, Walsers und so weiter. Haratischwili ist erst die dritte Frau, der diese höchsten literarischen Weihen des Bundeslands gewährt werden. Kein Preisträger war jünger und keiner trug bisher einen Namen, aus dem hervorginge, dass die deutschsprachige Literatur wieder Anschluss gefunden hat an eine neue Weltliteratur, die nicht mehr nur auf irgendwelche Hintergründe weist, sondern ins Zentrum unserer interkulturellen Lebenswirklichkeit.
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Mit einem Doppelschlag hat sich die skandalgebeutelte Schwedische Akademie im Oktober aus ihrer selbstverordneten Besinnungspause zurückgemeldet. Der Literaturnobelpreis für 2018 wurde an die polnische Autorin Olga Tokarczuk nachgereicht. 1996 wurde sie mit dem wunderbaren Roman „Ur und andere Zeiten“ bekannt, und hat seitdem im Stillen an den Rändern von Geschichte und Tiefenpsychologie ein gewaltiges Werk errichtet. Für ihren Roman „Unrast“ gewann sie im vergangenen Jahr als erste polnische Autorin den internationalen Man-Booker-Preis. Tja, und dann war da noch der Literaturnobelpreis 2019 für Peter Handke – aber dazu wurde nun wirklich alles gesagt.