Mit der Wahl Nelson Mandelas vor 20 Jahren endete das Regime der Rassentrennung. Probleme hat Südafrika noch immer zuhauf: viele Weißen fürchten sich vor Diebstahl und Gewaltexzessen, ein Großteil der schwarzen Bevölkerung lebt in Armut.

Johannesburg - Goldgelb wie ein Krügerrand verschwindet die Sonne hinter den Häusern von Soweto. „Das ist der schönste Moment am Tag“, sagt Mike Harris, der seit 14 Stunden auf den Beinen ist. Der 61-jährige Elektroingenieur dreht seit vier Uhr früh am Knotenpunkt der Eisenbahn zwischen Soweto und Johannesburg seine Runden. Er regelt die Stromzufuhr und sorgt dafür, dass Pendlerzüge bei Ausfällen nicht zu lange stehen bleiben. Andernfalls zünden zornige Fahrgäste kurzerhand die Waggons an. Stromausfälle kommen oft vor, weil Diebe oft die für den Zugbetrieb nötigen Kabel klauen. Für einen Meter armdicken Kupferdraht bekommen die Diebe umgerechnet fünf Euro, der Altmetallhändler verkauft ihn für 50 Euro an Chinesen weiter: Dagegen muss die südafrikanische Eisenbahn 240 Euro pro Meter zahlen, um die Leitungen zu ersetzen.

 

Meist verdienten korrupte Offizielle bei den Neueinkäufen mit, sagt Mike Harris: Sie hätten deshalb gar kein Interesse daran, den Diebstahl zu stoppen. „Ein Gleichnis, für unser ganzes Land“, fügt der Ingenieur hinzu: „Was sich hier abspielt, kann nicht mehr lange gut gehen.“

Johannesburg im April 2014, zwanzig Jahre nach dem Wunder vom Kap der Guten Hoffnung. Zur Überraschung der gesamten Welt hatten die Südafrikaner unter der Führung Nelson Mandelas und des letzten Präsidenten der weißen Minderheit, Frederik Willem de Klerk, das zerrissene Land vor dem endgültigen Sturz in den Abgrund bewahrt. Statt im Bürgerkrieg zu versinken wurde das Kap der Guten Hoffnung zum Sinnbild für späte Einsicht und Versöhnungsbereitschaft, der Regenbogenstaat sollte zur gemeinsamen Heimat von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sitten und Überzeugungen werden.

Die ersten demokratischen Wahlen im April 1994

Auch Mike Harris war damals erleichtert: Jeder klar denkende Menschen habe gewusst, dass das mit der Apartheid nicht weitergehen konnte, sagt der Ingenieur: „Die ersten demokratischen Wahlen am 27. April 1994 waren für alle eine Befreiung.“ Harris’ Optimismus hielt nicht lange an. Der Bahnangestellte hatte sich ein Haus in Mindalore gekauft, einem verschlafenen Stadtteil am Westrand von Johannesburg, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten.

Doch bald war es mit der Ruhe vorbei: Der Ingenieur und seine österreichische Frau bekamen unerbetene Besucher, die es auf ihr Eigentum abgesehen hatten. Als sich eines nachts nicht weniger als acht ans Werk machten, war es um seine Geduld geschehen: „Ich sägte sämtliche Bäume und Büsche ab, sicherte das Anwesen mit einem Palisadenzaun und schaffte mir Bewegungsmelder, einen Tarnanzug, eine Schrotflinte sowie mehrere Hunde an.“

Jetzt bewachen zivile Sheriffs den Stadtteil

Als der Ingenieur genug über die Angreifer herausgefunden hatte, mobilisierte er den Stadtteil. Er kontaktierte alle Familien, die Erfahrungen mit Dieben gemacht hatten: Heute sind 420 Familien in der Neighbourhood Watch organisiert und über Sprechfunk miteinander verbunden. Sobald die Hunde anschlagen und sich ein Fremder auf der Straße bewegt, wird er von den zivilen Sheriffs angesprochen. Ab und an kommt es auch zu Schusswechseln. Seit der Gründung der Bürgerinitiative hätten sich die Fälle versuchter Einbrüche von neun in einer Nacht auf fünf pro Monat reduziert, berichtet Harris.

Zur Neighbourhood Watch gehören auch Cynthia und Aaron Motswene – eine von rund hundert schwarzen Familien, die während der vergangenen zwanzig Jahre in den einst nur für Weiße reservierten Stadtteil gezogen sind. Die Motswenes suchten sich Mindalore als Heimat aus, weil es hier sicherer ist als in Soweto. Außerdem ist die Strom- und Wasserversorgung zuverlässiger als in Südafrikas Schwarzensiedlungen. Als sie 2003 herzogen, waren die Motswenes finanziell gut aufgestellt: Aaron arbeitete als Manager in einer Ladenkette für Autoersatzteile, Cynthia als Krankenschwester in einer staatlichen Klinik. Während des wirtschaftlichen Niedergangs der vergangenen Jahre verlor er wie Hunderttausende anderer Südafrikaner seinen Job: „Jetzt leben wir von der Hand in den Mund“, sagt der Vater von zwei Kindern, „und versinken in Schulden.“

Die wirtschaftliche Gleichberechtigung kam nie

Mit den weißen Familien in Mindalore haben die Motswenes wenig am Hut. Ein freundschaftliches Verhältnis verband Aaron nur mit seinem Nachbarn Koebus. Der übergewichtige Bure starb kürzlich an einem Herzinfarkt – in Aaron Motswenes Armen. Das sei schlimm gewesen, sagt der 59-Jährige: „Koebus war ohne Zweifel ein Rassist. Aber ein guter Rassist.“ Vor zwanzig Jahren, beim Zeitenwechsel am Kap der Guten Hoffnung, waren auch die Motswenes im Glück. Zumindest politisch sei die Gleichberechtigung hergestellt worden: „Heute können wir wenigstens mit einem Weißen einen Streit anfangen, ohne gleich befürchten zu müssen, dass er uns über den Haufen schießt.“

An den im Juni 1976 in Soweto ausgebrochenen Schülerunruhen war Aaron Motswene selbst beteiligt: Er sah Hektor Pietersen sterben – das Foto des bei einer Demonstration erschossenen Zwölfjährigen wurde zum weltweiten Symbol für die Brutalität der weißen Herrscher und den Widerstand der schwarzen Bevölkerung. Wenn die Motswenes an die langen Jahre des Widerstands zurückdenken, fühlen sie sich betrogen: „Wir haben für Gleichberechtigung gekämpft“, sagt Aaron Motswene, „und nicht dafür, dass sich einige wenige auf unsere Kosten bereichern.“

40 Prozent der schwarzen Bevölkerung ist arbeitslos

Wirtschaftlich profitierten im neuen Südafrika nur diejenigen, die dem regierenden ANC nahestehen, klagt Cynthia Motswene – sogenannte „Tenderpreneure“, die von ihren politischen Verbindungen und öffentlichen Aufträgen lebten. Dagegen versinkt die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung immer tiefer in Armut: 40 Prozent sind arbeitslos. Aaron Motswene versucht sich seit seiner Kündigung als selbstständiger Kleinunternehmer zu behaupten. Er mietete in Soweto einen Laden an, indem er Autoersatzteile verkauft, doch auch vier Jahre nach der Eröffnung seines Geschäfts schreibt er rote Zahlen. Erklären lässt sich das mit einem Blick in das dicke Heft, in das Motswene sämtliche Kundenwünsche einträgt, die er nicht erfüllen kann: Vier von fünf nachgefragten Artikeln hat er nicht auf Lager. Das Problem könnte behoben werden, wenn er einen Kredit zur Vergrößerung seines auf drei Regalen untergebrachten Vorrats bekäme. Doch Banken gehen das Risiko nicht ohne Sicherheiten ein. Eine eigens für Kleinunternehmer eingerichtete staatliche Stiftung beschied seine Anträge stets negativ. „Man gab mir zu verstehen, dass ich Schmiergeld zahlen müsste“, sagt er resigniert.

Der einstige Aktivist geht nicht einmal mehr wählen

Inzwischen sehnen sich die Motswenes fast schon nach den Zeiten der Apartheid zurück. Damals hätte es mehr Jobs gegeben, sagt Aaron Motswene: „Es sieht so aus, als ob wir Schwarzen das Land nicht regieren können.“ Bereits vor mehreren Jahren wandte sich der einstige Aktivist vom regierenden ANC ab, um sich der als Partei der Weißen geltenden oppositionellen Demokratischen Allianz (DA) anzuschließen. Weil die Weißen nur weniger als sieben Prozent der Bevölkerung ausmachen, bemüht sich die DA verstärkt um schwarze Stimmen. Für die Parlamentswahlen Anfang Mai bewarben sich in Mindalore 18 Schwarze und nur ein Weißer als DA-Kandidat: Doch die Parteiführung wählte ausgerechnet den weißen Bewerber aus.

Seitdem hat auch Aaron Motswene die Lust an der DA verloren: Obwohl sie für ihr Wahlrecht ein Leben lang gekämpft haben, werden die Motswenes beim kommenden Urnengang zu Hause bleiben. Ihre große Hoffnung ist Tochter Bongiwe, die in Pretoria Jura studiert. Sie sei der einzige Grund, warum sie sich morgens um vier Uhr aus dem Bett quäle, sagt Cynthia Motswene: „Für Bongiwes Zukunft tue ich das alles.“