Die About Pop bringt Pop im Weltformat auf die Bühnen im Wizemann und ein Stadtrat bringt eine neue Location in der City ins Gespräch: Eindrücke von einem überwältigenden Festival.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

So weit vorn hat sich Pop in Stuttgart lange nicht mehr angefühlt. Die About Pop hat am Samstag neben rund 2000 Besucherinnen und Besuchern im Wizemann so viele, vielfältige und interessante Menschen, Ideen und Musik versammelt, dass zwangsläufig ein Gefühl der Überwältigung entstand.

 

Aber soll nicht genau das Ziel einer auch an diesem Ort einzigartigen Mischung aus Konferenz und Festival sein, die den Anspruch erhebt, ein Abbild von Pop im Jahr 2023 zu sein? Fast wie nebenbei werden am Samstag lokale Debatten um Räume und Stadtentwicklung weitergeführt. Entsprechend kann ein Bericht von der About Pop nur splitterhaft ausfallen.

Eine neue Pop-Location in Stuttgart?

Popkultur hat immer mit Räumen zu tun. Deshalb beschäftigen sich mehrere Gesprächsrunden mit der Frage, wo sie in Stuttgart stattfinden kann. Eben weil die Stadt sich derzeit so sehr wandelt, tun sich ständig neue Möglichkeiten auf. Dabei darf der Blick gern über die City hinausreichen, wie eine für Herbst angekündigte, am Samstag bereits auszugsweise präsentierte Studie zum Stuttgarter Nachtleben zeigt: Aktuell liegt gut die Hälfte der relevanten Einrichtungen in Stuttgart-Mitte, was nicht zuletzt mit Blick auf Lärm Sicherheit alles andere als optimal ist. Zumal sich interessante Flächen oftmals außerhalb der Innenstadt befinden.

Egal ob im Zentrum oder in der Peripherie, Kultur und Nachtleben dürften nicht Lückenfüller für heruntergerockte Viertel sein, argumentiert Niels Runge von der Koordinierungsstelle Nachtleben: „Stattdessen sollte auch ein Weiterbetrieb mitgeplant werden.“ Jürgen Sauer (CDU) schließt sich dem in einer Gesprächsrunde mit fünf Stadträten an.

Kommunalpolitischer Konsens herrscht an dieser Stelle aber offenbar nicht. Sie nehme Ängste wahr, dass Zwischennutzer nicht mehr Platz machen wollen für hübsche Neubauten, sagt Rose von Stein (Freie Wähler): „Zwischennutzung darf nicht heißen Dauernutzung.“ Zumal es etliche wenig genutzte Räume gebe, etwa die Alte Kelter in Zuffenhausen. Marcel Roth (Grüne) bringt mit dem Kaufhof-Gebäude an der Eberhardstraße eine prominentere Location ins Gespräch: „Dafür gibt es noch gar keine Pläne. Aber wenn jemand mit einer Idee kommt, sind wir als Politik sehr offen für solche Vorschläge.“

Die Welt zu Gast im Wizemann

Das About-Pop-Programm drückt den anspruchsvollen Geschmack eines Kuratorengremiums aus – und das Popbüro hat dank großzügiger Fördermittel die Freiheit, das auch umzusetzen. Darin liegt ein enormer Wert, weil dieses Line-Up bei keinem „normalen“ Festival zusammenkäme. Entsprechend kommen die Acts bis aus den USA und Israel angereist.

Am mondänsten klingt allerdings das Pariser Duo Agar Agar mit seiner Mischung aus dunklem Synthesizer-Pop und allerlei Spielarten der elektronischen Tanzmusik. Es hat ein fast schon Bregenzer-Festspiele-taugliches Bühnenbild in der Wizemann-Halle aufgebaut. Das erst mondbeschienen daliegende Pappmachégebirge offenbar sich im Konzertverlauf als Gesicht mit blutroten Augen und die dystopisch riesenhaften Disteln leuchten auf einmal bunt. So geht Weltklassepop! Musikalisch auf ähnlich hohem Niveau agieren ganz zum Ende Boy Harsher, die das Wizemann zum Abschluss in eine Dark Disco verwandeln.

Nebenan im kleineren Club zeigen die belgischen Whispering Sons, dass vom Post Punk noch etwas zu erwarten ist. Der instrumental herausragenden Band steht mit Fenne Kuppens eine Sängerin mit einer selten, vielleicht nie gehörter androgyner Stimme vor. Auf der Tour zu ihrem Debütalbum machte die Band nicht Halt in Stuttgart. Vielleicht ermutigt der frenetische Zuspruch bei der About Pop Veranstalter dazu, das künftig anders zu handhaben?

Stuttgart hat ein begeisterungsfähiges Publikum für neue Popmusik. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang der Auftritt des Duos Beatfoot aus Tel Aviv. Sie scheinen wie mit dem Staubsauger sämtliche Musik aufgesogen zu haben, die ungefähr zwischen 1985 und 1999 auf MTV und Viva gelaufen ist – und spucken alles in einer irrsinnigen Mischung wieder auf die Bühne. Als Hyperpop, besser Hypertechno könne man das bezeichnen, erzählt die Band hinterher. Ihre Musik sei so eklektisch wie die 1990er Jahre – oder eben ihr Heimatland Israel.

Alles ist Pop

Die 1990er Jahre gelten als großes Popjahrzehnt. Es mag im Rückblick aber deutlich unschuldiger wirken, als es tatsächlich war, sagt Jens Balzer, der darüber jüngst das Buch „No Limit“ geschrieben hat. „Damals gab es in Deutschland nicht nur Trash-Techno, sondern auch die ersten großen Konzerte von Neonazi-Bands wie Screwdriver.“ Diversität spielte zudem kaum eine Rolle, nicht zuletzt bei zusammengecasteten Boy- oder Girlbands. Die Spice Girls beschreibt Balzer als reaktionäre Truppe von Thatcheristinnen, hält sie wegen ihres zugleich postmodernen Gehabes und des eklektizistischen Girlie-Styles aber auch als „interessanteste Band der 1990er“.

Goldene Popzeiten waren es allemal, auch für den Popjournalismus. Nun sind Musikzeitschriften wie „Spex“ oder „Intro“ seit fünf Jahren verschwunden und die Kulturteile vom Samstag der süddeutschen Zeitungen waren weitgehend popfrei, wie der Autor Björn Springorum ermittelt hat. Thomas Venker schreibt beim Onlinemagazin „Kaput“ zwar weiterhin über Musik. „Aber vielen Leuten reicht eben der Blick in die Spotify-Playlisten. Man hat sich lange Zeit was vorgegaukelt, wie viele Menschen tief recherchierte Artikel haben möchten“, sagt der einstige Autor bei „Lift“ und „Stuttgarter Nachrichten“.

Auch die „Spiegel“-Autorin Anja Rützel hat einst im Pressehaus für „Sonntag Aktuell“ geschrieben und in der letzten „Spex“ über eine Songzeile der von ihr geliebten, aber wenig bekannten Band Die Heiterkeit. „Das könnte ich beim Spiegel nicht machen“, bedauert sie und macht damit auch klar, dass ein von Feuilletonisten nach persönlichem Gusto zu befüllendes Feuilleton eher nicht die Zukunft ist.

Neben dem Popjournalismus hat sich bekanntlich die Popmusik selbst in weiten Teilen ins Netz verlagert. Doch einem Album ein digitales Herzchen dazulassen ist nicht dasselbe wie sich eine Platte ins Regal zu stellen. Der Tonträger wird vielfach Teil der eigenen Identität, argumentiert der Filmemacher und Popdenker Duc-Thi Bui bei einem Panel über den Wert von Plattensammlungen in Zeiten nahezu unbegrenzter Musikverfügbarkeit.

Zusammengeklickte digitale Musikbibliotheken „sind bis jetzt kein guter Ersatz. Ich muss die Musik dafür nicht einmal gehört haben“, so Bui, der mit seiner „Playtime“-Reihe genau jenes Einmal-komplett-Durchhören zelebriert. Folgerichtig schlägt er bei der About Pop eine App für eine neue Form des digitalen Musiksammelns vor. Die Idee ist hiermit in der Welt – hoffentlich greift sie jemand auf.

Stuttgarter Acts: von brachial bis Techno

Die Nerven sind von den gar nicht so wenigen Stuttgarter Popbotschaftern der bekannteste auf der About Pop. Und sie sind im pickepackevollen Wizemann Club in Feierlaune, mehr Show war bei ihnen noch nie: Der Gitarrist Max Rieger tanzt enthusiasmiert und bedankt sich freundlich für die Einladung, Kevin Kuhn beschäftigt sich ähnlich viel mit dem Publikum wie mit seinem Schlagzeug, zwei neue Songs vom neuen Album werden ebenfalls gespielt. Wohin die Reise geht? Am Samstag arbeiten Die Nerven die, man darf es eigentlich nicht sagen, progrockigen Elemente ihrer Songs aus. In ihrer Musik steckt aber so viel mehr, und schon deshalb darf man sich im Grunde kein Konzert entgehen lassen. So sehen es am Samstag auch einige Hundert Menschen im angemessen überfüllten Wizemann Club.

Früher am Abend tritt auf derselben Bühne Max Philipp alias Flawless Issues auf die Bühne. Seine Musik zeigt, warum die Zukunft des Pop manchmal seine Vergangenheit ist. Sie reitet nicht nur auf der aktuellen Wave-Welle. Max Philipp schiebt sie sogar maßgeblich mit an, auch als Bandmitglied des bei jungen Hörern nicht minder beliebten Edwin Rosen. Die Musikbezüge reichen bis in die späten 1970er zurück (Suicide), zwischenzeitlich lassen auch The Smiths und die Angst vor der Atombombe grüßen. Flawless Issues zündet sie noch nicht ganz, aber er scheint kurz davor.

Erstmals bespielt wird der Parkplatz an der Pragstraße. Die About-Pop-Macher haben sich erkennbar Mühe gegeben, ihn ansprechend herzurichten. Nur die Bühne wirkt etwas zu groß, wenn die Sängerin Hanniou ganz allein zum Halbplayback darauf steht. Der deutlich lautere Post Punk von Themis funktioniert am Nachmittag dagegen gleichermaßen auf dem Parkplatz wie als Hintergrundsoundtrack für den Konferenzbereich.

Etwas abseits des kompakten Festivalgeländes ist zum Abschluss des lokalen Musikprogramms Laima Adelaide keineswegs zu beneiden. In einem Raum mit ungefähr null Prozent Sauerstoffgehalt in der Luft ein eigens komponiertes Werk aufzuführen, ist wahrlich Schwerstarbeit. Umso leichter hypnotisiert der Deep Techno, zu dem Lampen wie Lichtschwerter im Takt leuchten. Das Publikum tanzt, setzt sich, tanzt wieder – Laima Adelaides elektronische Musik mag in den Clubs zu Hause sein, hier füllt sie wie eine Installation den ehemaligen Industrieraum.

Wie geht es weiter?

Walter Ercolino vom Popbüro hat bereits angekündigt, dass die About Pop 2024 an zwei Tagen stattfindet, einschließlich Clubfestival in der Region. Zudem will Kulturstaatssekretär Arne Braun bis dahin seine Evaluation der Popförderung so weit haben, „dass am Ende daraus ein politischer Auftrag folgt“, wie er im Interview mit unserer Zeitung erklärt hat.

Die About Pop bekräftigt am Samstag den Eindruck, dass gerade viele Rädchen ineinandergreifen. Popkultur und Popförderung nehmen gerade richtig Schwung auf, und alle scheinen gewillt, ihn auch nutzen zu wollen.