Abgeordnete der AfD zielen auf Behinderte. Warum eigentlich bleibt ein Aufschrei in den eigenen Reihen in diesem Fall aus?,fragt unsere Kolumnistin Katja Bauer.

Berlin - Wenn die AfD mit Provokationen an die Öffentlichkeit geht, dann verfolgt sie damit jenseits des Aktuellen zwei längerfristige strategische Ziele. Das erste ist ein steter Strom der Aufmerksamkeit. Das sichert Präsenz und ermöglicht Zustimmung.

 

Der zweite Zweck zielt nicht auf Zustimmung, sondern im Kern auf das Wertegerüst, auf das sich diese Demokratie verständigt hat. Mithilfe permanenter Tabubrüche sollen derzeit geltende Grenzen ausgelotet und dort verschoben werden, wo es dem politischen Willen der Partei entspricht. Es geht nicht um Kinkerlitzchen, sondern um Kernfragen wie die Gleichwertigkeit von Menschen.

Dieser Behauptung werden vermutlich etliche Anhänger der Partei widersprechen, die sich als gemäßigt und konservativ begreifen. Für sich selbst werden sie diese Beschreibung vermutlich mit Empörung, zurückweisen. Und für sich als Individuum haben sie sicher Recht – daher schon an dieser Stelle: Entschuldigung, wenn der Vorwurf ungerechtfertigt ist.

Kinder werden geboren, sie sind nicht „entstanden“

Aber gerade diesen Anhängern müsste sich immer drängender eine Frage stellen: Weshalb bleiben sie in Momenten des Tabubruchs anderer so stumm? Jüngstes Beispiel ist die kleine Anfrage von drei Bundestagsabgeordneten (Drucksache 19/1444). Darin wird die Regierung aufgefordert, die „Zahl der Behinderten seit 2012“ zu nennen, die „durch Heirat innerhalb der Familie entstanden“ seien. Auch wird gefragt, wie viele Schwerbehinderte „einen Migrationshintergrund“ und einen deutschen Pass haben und welche Ursachen die Schwerbehinderung habe. In der Einleitung legen die Fragenden nahe, dass unter Zuwanderern Inzest regelmäßig vorkomme.

Kinder werden nach allgemeinem Verständnis geboren. Nicht für die AfD, sofern diese Kinder behindert sind und womöglich ausländische Wurzeln haben. Dann sind sie „entstanden“ – wie Dinge. Der Aufschrei und die Aufmerksamkeit waren groß: Abgeordnete anderer Parteien nannten das heraufbeschworene Verschuldensprinzip menschenverachtend. Die großen Sozialverbände protestierten in beispielloser Geschlossenheit: „Wir rufen die Bevölkerung auf, wachsam zu sein“, heißt es in einer Anzeige. Die Fraktion suggeriere bösartig einen Zusammenhang von Inzucht, behinderten Kindern und Migranten. Dies erinnere an Zeiten, in denen Menschen mit Behinderung das Lebensrecht aberkannt wurde. An einer Stelle bleibt der Aufschrei aus – in den Reihen der AfD. Dort, wo es so viele Menschen gibt, die sich als konservativ und humanistischen Werten verpflichtet begreifen und stets argumentieren, es gebe eben einige extreme Vertreter in ihrem „gärigen Haufen“. Weshalb bleiben sie still? Wo ist ihre Schmerzgrenze, wenn nicht hier?

Wörter können sein wie Arsen

Es ist nur eine kleine Anfrage. Sie wird keine praktischen Folgen haben. Aber Sprache ist ein kraftvolles Mittel. Wer das Unsagbare sagbar macht, der ebnet einen Weg dafür, Undenkbares denkbar zu machen. Thilo Sarrazins „Unterschichtgeburten“ diffamieren Menschen vom ersten Atemzug an. In den 20er Jahren erfand der Euthanasie-Vordenker Alfred Hoche die „Ballastexistenzen“. Viktor Klemperer hat den Mechanismus so beschrieben: „Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da .“