Die Altkanzlerin verteidigt in einem Interview erneut ihre Russland-Politik, bedauert aber, die Ausrüstung der Bundeswehr vernachlässigt zu haben.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Die Frisur! Schon zu Beginn der Karriere Angela Merkels als mächtigste Frau im Land war ihr Erscheinungsbild nie völlig belanglos. So ist es offenbar immer noch, ein Jahr nach ihrem Rückzug aus der Politik. Damals ging es um den aus der ostdeutschen Coiffeurmode importierten Topfschnitt, jetzt um einen nicht existenten Pferdeschwanz.

 

Merkel gewährt anlässlich ihres einjährigen Rentnerinnendaseins gerade Audienzen in Serie. Nach dem „Spiegel“ und dem „Stern“ empfing sie nun die „Zeit“ – die sogar autorisierte Zitate in seitenfüllender Interviewlänge zu heiklen Entscheidungen aus ihrer Regierungszeit abdrucken durfte, was den Kollegen nicht vergönnt war.

„Hatten Sie gedacht, ich komme mit Pferdeschwanz?“

Das Ganze beginnt mit dem Versuch eines Kompliments und einer überraschenden Erwiderung. „Sie sehen immer noch genauso aus wie früher“, sagen die Interviewer. „Hatten Sie gedacht, ich komme mit Pferdeschwanz?“, entgegnet Merkel. Sie habe sich mit ihrer Kanzlerinnenfrisur inzwischen „angefreundet“, sich ansonsten aber wenig geändert. Die Merkel von 2022 sei die gleiche wie die zu Regierungszeiten, nur „in einer etwas zweckmäßigeren Ausfertigung“. Zudem müsse sie „weniger auf Schminke achten“.

Die „Zeit“ ist aber kein Beauty-Magazin – und der eigentliche Anlass des Interviews nicht Merkels Aussehen, sondern der veränderte Blick auf ihre Bilanz. Vor allem auf ihre Russland-Politik, die heute vielen fast naiv, jedenfalls übertrieben rücksichtsvoll gegenüber dem Kremlherrn Wladimir Putin erscheint. Im Unterschied zu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will sie sich dafür aber keineswegs entschuldigen, beharrt vielmehr darauf, „dass ich meine damaligen Entscheidungen in einer auch heute für mich nachvollziehbaren Weise getroffen habe“. Das Minsker Abkommen und die Bereitschaft zu Gesprächen (und Geschäften) mit Putin auch nach der Krim-Annexion deutet sie als „Versuch, genau einen solche Krieg zu verhindern“. Merkel fügt hinzu: „Dass das nicht gelungen ist, heißt doch nicht, dass die Versuche deshalb falsch waren.“ Mit dem Ringen um einen Waffenstillstand in der Ostukraine habe sie Kiew Zeit verschaffen wollen. Merkel sieht sich bestätigt: Die Ukraine habe „diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht“. Damals „hätte Putin sie leicht überrennen können“.

„Ich habe mir so viele Gedanken damals gemacht!“

Auch das Geschäft mit der Gaspipeline Nord Stream 2, bei westlichen Verbündeten heftig umstritten, sieht Merkel nicht als Fehler. „Heute wird ja manchmal so getan, als ob jedes russische Gasmolekül des Teufels wäre“, sagt sie. Den Begriff „Abhängigkeit“ nimmt sie in den Mund ohne ein Beiwort des Bedauerns. Das fragwürdige Pipeline-Projekt sei zudem nicht von der Bundesregierung, sondern von privaten Unternehmen betrieben worden. Ein Veto des Staates, so ihre historische Interpretation, „hätte aus meiner Sicht das Klima mit Russland gefährlich verschlechtert“. Mit Selbstkritik geht die Altkanzlerin sparsam um – obwohl sie selbst darauf zu sprechen kommt und viele darauf warten. „Das mag sein“, sagt sie dazu, „in vielen Punkten entspricht die Haltung der Kritiker aber nicht meiner Meinung.“ Von einer zerknirschten Revision früherer Ansichten ist sie weit entfernt – und klingt dabei ziemlich stur und rechthaberisch: „Sich dem einfach zu beugen, nur weil es erwartet wird, hielte ich für wohlfeil“, sagt sie. „Ich habe mir so viele Gedanken damals gemacht! Es wäre doch geradezu ein Armutszeugnis, wenn ich jetzt, nur um meine Ruhe zu haben und ohne wirklich so zu denken, einfach sagen würde: Ach, stimmt, jetzt fällt’s mir auch auf, das war falsch!“

Ein bisschen Selbstkritik kann sie sich dann aber doch abringen. Sie ist mit fünf Zeilen erledigt: „Wir hätten schneller auf die Aggressivität Russlands reagieren müssen“, sagt Merkel. Deutschland habe in ihrer Regierungszeit die Zusage, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in das eigene Militär zu investieren, nie eingehalten. „Und ich habe nicht jeden Tag eine flammende Rede dafür gehalten.“

Das neuerdings sehr kritische Echo ihrer Amtszeit lässt sie offenkundig nicht völlig unberührt. Merkel sagt, auch wenn sie nichts davon zur Kenntnis nehmen würde, „gibt es garantiert jemanden, der mir die Kritik unter die Nase hält“.