Dan Ettinger leitet sein erstes Konzert als Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker. Es gibt viel Beifall für das Hauptwerk des Abends im Beethovensaal, Gustav Mahlers fünfte Sinfonie.

Stuttgart - Der Intendant der Stuttgarter Philharmoniker, Michael Stille, ruderte etwas aufgeregter als sonst durchs Foyer der Stuttgarter Liederhalle. Endlich ein neuer Chefdirigent für sein Orchester, nach zwei Jahren ohne. 2013 hatte sich Gabriel Feltz nach Dortmund verabschiedet. Dan Ettinger, der Wunschkandidat des Orchesters, war erst zu dieser Saison zu haben – bis zum Sommer 2016 ist er noch Generalmusikdirektor des Nationaltheaters Mannheim. Ein paar Monate darf Ettinger nun diesen sehr deutschen Titel doppelt führen: Am Dienstag hat der lockere Israeli im Beethovensaal sein Einstandskonzert gegeben. Der Taktstock wurde dem 44-Jährigen vom Oberbürgermeister Fritz Kuhn übergeben, der zuvor sympathisch kurz gesprochen hatte. Das Haus war gesteckt voll, selbst Susanne Eisenmann, Bürgermeisterin für das Referat Kultur, Bildung und Sport und bekannt für ihre Nichtpräsenz bei Hochkulturterminen, war da. Die allgemeine Neugierde war groß. Alles super also.

 

Beinahe. Denn dieses Antrittskonzert des smarten Musikers mit dem Lächeln des netten Jungen von nebenan zeigte ziemlich deutlich Stärken und Schwächen, sowohl des Neuen selbst als auch in der Interaktion des Chefs mit dem Orchester der Landeshauptstadt und schließlich bei den Musikern, die als Ensemble deutlich wieder eine erzieherische Hand benötigen. Gabriel Feltz hat während neun Jahren eine Führung gezeigt, deren Ergebnis eine bemerkenswert gesteigerte Spielkultur und -disziplin der Stuttgarter Philharmoniker war. Solche Früchte verdorren allerdings alsbald, werden sie nicht gepflegt. Eine Erkenntnis des Abends: dieses Orchester, so inhomogen es in manchen Gruppen wirkt (zerfasernde Violoncelli), auch ernste Probleme wie einen schrecklich führungslaschen Konzertmeister gewärtigt, besitzt Potenzial.

Fantasie-Zottelfrack, Strumpfhosen, Springerstiefel

Dan Ettingers Werkwahl für sein Antrittskonzert war ebenso ambitioniert wie erratisch. Die fünfte Sinfonie von Gustav Mahler erscheint plausibel. Mahlers „symbolische Riesenschwarten“, diese „repräsentativen Kartons“ – Adornos auf die Achte gemünzter Satz passt genauso gut auf die cis-Moll-Sinfonie – zieren solche Anlässe; die Kombination mit dem vorangestellten G-Dur-Violinkonzert KV 216 von Mozart erscheint freilich ebenso willkürlich wie unpassend. Das geht nicht zusammen, zumal – auf lebhafte Zuschauerresonanz vorberechnet, die Bravorufe kamen verlässlich – als Zugabe ein Virtuosenschmankerl gegeben wurde, der „Russische Tanz“ aus Tschaikowskys „Schwanensee“, das den Abend längte.

Immerhin, Mozart und Tschaikowsky waren hier nicht so weit voneinander entfernt. Der freakig auftretende Geiger Nemanja Radulovic – Fantasiezottelfrack, Strumpfhosen, Springerstiefel bis zum Knie, drahtig wuschelnde Lockenpracht, dabei doch ganz brav und dauerselig – romantisierte und manikürte Mozart nach Façon des späten 19. Jahrhunderts. Aber will man Mozart so noch hören? Manches klappert, die Holzbläser schwingen zu spät ein und aus, symptomatisch gar der verrutschte Schluss. Ventilhörner, die Mitte des Orchesters, stören hier, selbst wenn sie sauber geblasen würden. Penetrantes an der Sache Vorbeiphrasieren ist da nur eine der lässlichen Sünden vor dem Hintergrund historisch informierter Aufführungspraxis, die uns Naturhörner als so viel richtiger vorgeführt hat. Jedenfalls sind sich Dan Ettinger und der Solist einig in ihrem Mozart-Missverständnis.

Nemanja Radulovic, nicht ohne musikantische Begabung, hat einen eher schmalen, nicht sehr variantenreichen Ton und bringt sein Instrument unter Druck arg zum Knirschen; die sich virtuos gebende Kadenz im Allegro ist pure Eitelkeit: Zum Kopfsatz disproportional, viel zu lang, ist sie stilistisch neben der Spur, bestärkt den Eindruck des Episodenhaften. Der auf einem Hocker lässig thronende Ettinger (ein bisschen erinnerte das an Zauberei aus dem Hut) ließ die Zügel arg locker, die Tempi waren nicht immer stabil.

Mittelsatz, das Scherzo, missriet

Zur Hauptaktion ging es selbstredend ohne Hochsitz. Mahler, es bestätigte sich wieder einmal, ist zum Klassiker herabgesunken; seine Sinfonien, besonders die erste, zweite und fünfte mit ihren Finalapotheosen, sind der Sonntagsbraten zum festlichen Anlass. Auch Dan Ettinger neutralisierte die Bitterstoffe der fünften Sinfonie durch Gegensäfte. So missriet ihm der zentrale (und schwerste) Mittelsatz, das Scherzo, durch einerseits zu wenig Detailarbeit, andererseits zu wenig Zusammenhalt der Satzglieder. Dabei hatte er im Orchester verlässliche, gar hervorragende Solisten wie Stefan Helbig, Horn, und Sebastian Zech, Trompete.

Gustav Mahlers hochkomplexe Partituren werden heute schlicht nicht genau genug geprobt. Mit dem ersten Ton der Sinfonie, dem klingendem Cis der Solotrompete, war die Unschärfe gesetzt, die nur eine Nuance bewirkt und aufs Ganze sich doch auswirkt: Statt des vorgeschriebenen bangen Pianos erklang ein gemütliches Mezzoforte. Zu wenig wurde hier auf die zugegeben tüftelige Mechanik der Lautstärkegrade geachtet; an- und abschwellende Töne, oft jäher Wechsel der Agogik wirkten zu wenig ausgearbeitet. Auch die Balancen im gesamten Orchester- wie im Registersatz sind noch lange nicht optimal austariert.

Ein gestisch-dirigentisches Naturtalent

Gestalterischer Wille ist Ettinger zwar deutlich eigen, er ist ein gestisch-dirigentisches Naturtalent, vermag körperlich vieles mitzuteilen. Doch im Adagietto etwa, für das er zehn Minuten 27 Sekunden brauchte, fehlte das Maß. Mahler selbst hat dieses Liebeslied für Alma in sieben, siebeneinhalb Minuten dirigiert, seine engen Vertrauten Willem Mengelberg und Bruno Walter haben nicht länger als höchstens acht Minuten gebraucht. Schade auch, dass Ettinger die vielen delikaten Luftpausen, die notierten Kommata zwischen den Phrasen, unbeachtet ließ und durch ein Super-Legato ersetzte. Etwas schwach als Gegenfarbe zum Streichersatz die Harfe.

Ettinger ist ein Theatermann, er schätzt Wirkungen, und damit brachte er das Werk zum rauschenden Schluss und den Beethovensaal zum Jubeln. Mancher feine Moment, einiges gut Ausgehörte war ja dabei gewesen, Ettinger kommunziert, und er weiß sich und sein Orchester in Szene zu setzen. Jetzt beginnt die Arbeit.