Frank Lehmann hat als junger Architekt ab 1969 eines der ersten Wohnhäuser des gerade entstehenden Stuttgarter Stadtteils Neugereut mitgeplant. Wie er die Gestaltung des Stadtteils architektonisch beurteilt und was er dem neuen Stadtviertel Rosenstein in Stuttgart wünscht und wovor er warnt, sagt er im Interview.
Herr Lehmann, Sie haben eines der ersten Häuser geplant, die in dem neuen Stadtteil Neugereut vor 50 Jahren entstanden sind und das heute sogar unter Denkmalschutz steht. Wie kam’s dazu?
Ganz einfach: Ich hatte mich bei dem ausführenden Architekturbüro beworben. Damals konnte man sich die Büros aussuchen, es gab ja sehr viel zu bauen. Ich hatte direkt nach meinem ersten Studium an der Staatsbauschule Stuttgart, wie sie damals hieß, dort meinen ersten Job bekommen. Ich habe sogar das recht geringe Gehalt in Kauf genommen, als ich am 1. März 1969 beim Büro Architekten Peter Faller und Hermann Schröder in Stuttgart anfing.
Was verdiente man denn damals als Architekt?
Bis zu 1300 Mark, also knapp 700 Euro aus heutiger Sicht. Ich hatte mich mit 1000 Mark zu begnügen, obwohl ich verheiratet war und schon Nachwuchs hatte.
Geld war es also nicht – was dann begeisterte Sie so an dem Neubaugebiet? Wann hörten Sie erstmals davon?
Ich hatte während des Studiums in einer Architekturzeitschrift von dem Siegerentwurf aus dem Jahr 1963 für den Wettbewerb für das Neubauviertel im Stuttgarter Nordosten gelesen. Das hat mich fasziniert, dass da Wohnformen möglich waren, die sich von den üblichen 0815-Objekten der Nachkriegszeit radikal unterschieden. Architekt Peter Faller hatte in Marl in Nordrhein-Westfalen bereits überregional wahrgenommene Wohnhügel entstehen lassen und Terrassenhäuser in der Tapachstraße in Stuttgart.
Und wie kam es, dass so einem Berufsanfänger wie Ihnen gleich die Planung eines Häuserkomplexes anvertraut wurde?
Ich hatte während des Studiums, wenn ich bei meiner Mutter in Bietigheim zu Besuch war, gern schon zu Studienzwecken Baustellen angeschaut. Und gegenüber ihres Hauses war eine Baustelle, ich sah also von Woche zu Woche, wie der Dachausbau entstand und machte Detailzeichnungen dazu. Ich fand den Gedanken spannend, Dachflächen als nutzbare Flächen zu verwenden. Mit diesem Wissen konnte ich offenbar auch die Architekten im Büro überzeugen, dass ich als Jungspund sogar noch Verbesserungsvorschläge für ihre Projekte hatte. Ehe ich mich versah, hatte ich die Stelle bekommen für die Planung des „Gebäudes A“ in der Pelikanstraße. Hier entstand eines der Terrassenhäuser, 160 Meter lang, mit dem Siedlungswerk als Bauträger. Es war aber traurig zusehen, dass fast gar nichts übrig geblieben war von dem Wettbewerbsplan.
Außer den Terrassenhäusern und dem Wohnhügel Schnitz?
Genau, das Mehrfamilienhaus Schnitz im Ibisweg, das von dem Architekten Peter Faller geplant wurde. Und eben die Terrassenhäuser in der Marabu- und Pelikanstraße, die sozusagen in der Mitte aufgeschnitten worden sind. Es war aber immerhin schön, dass dennoch diese Terrassenwohnungen entstehen konnten.
Was hatte Sie an Terrassenhäusern interessiert, die ja, ebenso wie das Schnitz, dann mit dem Hugo-Häring-Preis ausgezeichnet worden sind?
Die Begrünung. Dass man von außen nicht einsehen konnte. Jede Einheit war fast unabhängig von den anderen - wie ein kleines eigenes Haus, sowohl im Erdgeschoss mit Garten als auch bei den oberen Wohnungen mit den großen Terrassen. Individualität bei der Aufteilung der Wohnung war da selbst bei den 50 bis 60 Wohnungen möglich. Die Krux allerdings bei so einem Gebäudetyp war schnell erkannt…
Nämlich welche?
Der zeltartige Aufbau bedeutete, dass es innen teilweise dunkel ist. Architekt Schröder hatte an holländische Vorbilder gedacht und entsprechend geplant – mit offenem Wohnen, große Räume, wunderbar mit Möbeln abtrennbar, durchgesteckten Wohnungen, wo man von einem Ende zum anderen schauen konnte. Flexibilität war ein Traum von Faller & Schröder.
Heute baut man oft so, oder? Mit offenen Wohn-Ess- und Küchenbereichen.
Ja. Die Menschen wollten damals aber doch oft richtige Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer. Auch waren die Bäder aus heutiger Sicht ziemlich minimalistisch, eine kleine Sanitärzone mit dem Riesennachteil, dass man hier keine Fenster hatte.
Sie wissen all das auch, weil Sie selbst in so einem Haus gewohnt haben.
Im Herbst 1979 entdeckte ich ein Verkaufsangebot für eine Maisonette-Wohnung im Bauteil C. Dieses Gebäude - typgleich zum Bauteil A - plante meine Kollege, mit dem ich seinerzeit in einer WG wohnte. Die Wohnung erwarb ich und modernisierte sie. Fünf Jahre später kaufte ich direkt nebenan noch die kleinere Maisonette für meine Tochter hinzu. Das war ein schöner Zufall. Wir haben da fast 36 Jahre gewohnt. Seit Ende 2015 bin ich in meinem Büro in Stuttgart oder aber in Aalen, wo ich im Haus meiner Tochter noch eine Wohnung mit Büro habe. Übrigens: Die Baugenehmigung für ein zusätzliches Ateliergebäude auf dem Flurstück habe ich erst vor kurzem, nach einer Laufzeit von 16 Monaten, erhalten. Aber das ist ein anderes Thema...
Ja, die Baurechtsämter – das ist ein eigenes Thema! Wie aber hat sich Neugereut mit den Jahren verändert?
Die meisten Bewohner waren Eigentümer zu Beginn, mit den Jahren gab es eine starke Fluktuation. Menschen zogen noch weiter raus ins Umland, haben ein „Häusle“ gebaut. Aus allen Herren Ländern sind Menschen zuwandert, gerade gegenüber der Zickzackhäuser ist ein Komplex mit Mietwohnungen, die vor wenigen Jahren nunmehr vorbildhaft modernisiert beziehungsweise hergerichtet worden sind.
Wie sah es denn in Neugereut vor dem Entstehen der Siedlung aus?
Streuobstwiesen waren da mit Kirsch- und Zwetschgenbäumen, bevor die Bagger kamen. 1970 im Frühling ging‘s los. Als die ersten Leute einzogen, war das Riesenareal noch nicht gut erschlossen, es gab noch keine Geschäfte, keine Schule. Das erste Gebäude war dann die Burg – ein Lulatsch. Es war ein riesiger Nachteil, wie die Zickzack-Gebäude platziert wurden: in langer Linie, zirka 300 Meter lang und dann die Rottenburg dahinter. Ich war verärgert über die Verschattung, die das Hochhaus über das Zickzackgebäude des Bauteils A brachte. Obendrein war die schöne Aussicht auf den Max-Eyth-See vermasselt.
Abgesehen davon – wie bewerten Sie das Projekt Neugereut insgesamt in der Rückschau?
Unterm Strich ist das Neubauprojekt nicht gut gelungen. Die autofreie Zone mit der Ost-Umfahrung und Stichstraßen zu den Gebäuden hin ist gut, die Fußgängerzone ebenfalls. Aber insgesamt fand eben eine Art Zerhackstückelung statt, gebaut wurde nach dem Motto Länge mal Breite mal Honorar, Gewinn. Das vom Staat geförderte Demonstrativbauvorhaben hätte mit der Umsetzung der Bebauung mit Wohnhügeln, entsprechend Wettbewerbs-Vorschlag des ersten Preisträgers, Architekturbüro Faller & Schröder, eine tolle Signalwirkung haben können. Was jetzt daraus geworden ist, ist eine Ansammlung meist banaler Bauten. Wäre der ursprüngliche Siegerentwurf umgesetzt worden, wäre das für Stuttgart aus heutiger Sicht eine Riesengeschichte geworden.
Warum hat es nicht funktioniert?
Viele Köche verderben den Brei, sagt man. Das Stuttgarter Modell war schon interessant, aber der Druck, möglichst viele Wohneinheiten zu bauen, war gewaltig.
Was meinen Sie mit Stuttgarter Modell?
12 000 Bewohner sollten ein Zuhause finden. Es gab aber rund 300 Eigentümer, die viele kleine Grundstücke hatten. Das Stuttgarter Modell sah vor, dass sie alle ihre Stückle verkaufen, und dafür dann auch einige Grundstücke wieder kaufen und bebauen durften, als Ein- oder Mehrfamilienhaus. Dass das geklappt hat, war natürlich großartig. Man hat dann aber eben schnell realisiert, dass sich in Wohnhügeln nicht 12000 Menschen unterbringen lassen und dass die Bauträger auch nicht gewillt waren (sind), diese zu bauen.
Stuttgart bekommt wieder ein neues Stadtviertel, das Rosenstein. Was wünschen Sie dem Projekt? Wovor warnen Sie bei der Planung und Umsetzung?
Gerne möchte ich daran glauben, dass ein Rosenstein-Quartier entsteht, in welchem auch viele Ideen, Inhalte, bauliche Elemente sich wiederfinden und umgesetzt werden nach dem Vorbild holländischer und dänischer Stadtbauphilosophie und Städtebauqualität.
Das klingt, als würde jetzt gleich ein Aber folgen...
Viel zu sehr ist hierzulande zu beobachten. Und festzustellen, dass eine angepasste Belanglosigkeit, im Denken und Handeln von: Copy and Paste, als kleinster gemeinsamer Nenner vorherrscht und oft sogar noch als Erfolg ,verkauft’ wird. Die Planungs- und Umsetzungsgeschichte von Neugereut kann und sollte hier durchaus als mahnendes Beispiel wirken. Daher ist dem neuen Stadtteil zu wünschen, dass nach vielen Jahren heftiger gemeinsamer Anstrengung aller Verantwortlicher – im Sinne: ,Das Bessere ist der Feind des Guten’, dem Quartier eine Identität zuwächst, welche als neues ,Stuttgarter Modell’ auch international Beachtung und Respekt findet. Mein Motto hierfür: Viel Rosen, wenig Stein.
Info
Zur Person
Frank Lehmann, wurde 1945 in Ostheim/Rhön geboren, er ist Architekt, Dipl.-Ing., Regierungsbaumeister. Nach seiner ersten Station bei Faller und Schröder arbeitete er in Büros von Prof. Volkart und Pläcking, dem Siedlungswerk, für Daimler-Benz. Seit 2000 führt er sein eigenes Büro.
Jubiläumsfest
Wegen Corona wird die 50-Jahr-Feier Neugereut erst dieses Jahr statt 2021 groß gefeiert Oberbürgermeister Frank Nopper eröffnet das Fest am 9. Juli um 15 Uhr mit einer Festrede. Bezirksvorsteher Ralf Bohlmann spricht ein Grußwort. Von 16.30 Uhr an gibt es Vorführungen und Musik.
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