Der tödliche Tauchgang der „Titan“, die dem Wrack der Titanic ganz nahe kommen wollte, hat Aufsehen erregt. Vor 111 Jahren ging Emilie Gehring mit dem Ozeandampfer unter. Akten im Staatsarchiv Ludwigsburg dokumentieren, wie kompliziert es war, sie für tot erklären zu lassen.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Es ist nur eine kleine Anzeige, aber sie öffnet ein Fenster in einen großen Resonanzraum. „Durch Beschluss vom 26. August 1942 wurde die am 20. Oktober 1885 in Schönbronn, Gemeinde Grab, Kreis Backnang, geborene und seit dem Untergang des Ozeandampfers ,Titanic’ im Jahre 1912 verschollene Emilie Gehring für tot erklärt“, heißt es darin in sachlichem Verwaltungsdeutsch. „Als Zeitpunkt ihres Todes wird der 15. April 1912, 24 Uhr festgesetzt.“ Der offizielle Endpunkt eines Lebens – bekannt gemacht 30 Jahre, nachdem es erloschen war.

 

Wer war Emilie Gehring? Was weiß man über sie? Was machte sie auf der Titanic? Warum wurde sie erst Jahrzehnte später für tot erklärt? Und wie kommt diese Toterklärung der jungen Frau überhaupt nach Ludwigsburg, wo das Staatsarchiv sie mit weiteren Dokumenten zu dem Fall aufbewahrt?

Elke Koch erinnert sich noch genau, wie sie an das unscheinbare Aktenbündel kam, obwohl das „relativ am Anfang meines Archivdaseins war“, wie die promovierte Archivarin erzählt. Emilie Gehrings Fall kam ihr bei einer Aktenaussonderung des Amtsgerichts Backnang unter. „Da hinten in der Ecke liegen noch ganz alte Akten, die kann aber keiner lesen“, hatte ihr jemand im Gewölbekeller des Gerichts-Altbaus gesagt. „Keiner weiß so richtig, was das ist.“

30 Jahre nach dem Untergang der Titanic ist Emilie für tot erklärt worden. Foto: Staatsarchiv Ludwigsburg / LABW StAL Z 2006/056 P2 Akte 2

Koch warf einen Blick darauf und dachte erst: „Puh. Toterklärungen.“ Ein notwendiger juristischer Akt, „weil er irgendwann einmal formal abgeschlossen werden muss“, aber nicht automatisch so relevant, dass sie für die Nachwelt bewahrt werden müssten. „Wir archivieren sie nur, wenn sie außer dem formalen Vorgang noch etwas Besonderes haben“, erklärt sie. „Mit etwas Glück hängt zum Beispiel vielleicht ein letzter Brief aus Stalingrad dran.“

Aber bei dem besagten Bündel merkte Elke Koch sofort auf – weil es um einen Frauennamen ging und wegen des Datums. „Bei Toterklärungen rund um das Thema Krieg, Flucht und Vertreibung gibt es viel Dramatisches. Aber 1912 war kein Krieg.“ Schon als ihr die ersten Blätter in die Hände fielen, prangte da rot unterstrichen das Wort „Titanic“. Ein Titanic-Opfer aus der Region, dachte sich die Archivarin damals – „das nehme ich mit!“

Von Emilie selbst gibt es weder Fotos noch handschriftlich Hinterlassenes oder sonstige Schriftstücke. Dafür aber von ihrem Bruder Christian. Emilie wanderte in sehr jungen Jahren nach Amerika aus – und Christian nach London. Den letzten Brief von ihr erhielt er dort 1906 oder 1908, wie er sich später erinnerte. Doch danach besuchte Emilie ihn von der Neuen Welt aus noch in England. Und auch bei Verwandten in Deutschland machte sie Station. Ihre letzte Spur habe nach Frankfurt zu einem Schwager geführt, schreibt Christian Gehring später an das Amtsgericht Backnang. „Von diesem Schwager habe ich erfahren, dass meine Schwester wieder nach Amerika gereist ist, und dass sie auf dem englischen Schiff Titanic 1912 die Rückreise angetreten habe und mit dem Schiff untergegangen sein soll.“ Nie mehr hörte jemand aus der Familie etwas von der zu jenem Zeitpunkt 26-Jährigen.

Allerdings: Elke Koch hat Emilie Gehring auch auf keiner Passagierliste der Titanic gefunden. Ist sie doch nicht mit dem Unglücksdampfer gefahren? Hat sie ein anderes Schiff genommen? Oder bestieg sie die Titanic mit einem Fahrschein, der auf jemand anderen ausgestellt war? Dass sie an Bord war, ist für Elke Koch trotz mancher Unklarheit plausibel. Aus den Schilderungen ihres Bruders geht jedenfalls hervor, dass die Geschwister einander herzlich zugetan waren und es für Emilie keinen Grund gegeben hätte, nach dem Europa-Besuch den Kontakt abrupt und komplett abzubrechen. „Meine Schwester stund mit den Geschwistern immer in brieflichem Verkehr“, schrieb Christian Gehring später, „seit dem Untergang des Schiffes fehlt von der genannten Schwester jede Spur.“

Weshalb dann aber die so verspätete offizielle Toterklärung? Ganz einfach: Es ging ums Geld. Pauline, eine ältere Schwester der Gehrings, die einen Landwirt in Biberach bei Heilbronn geheiratet hatte, war gestorben. Emilie war Miterbin – oder in diesem Fall eben die, die in der Erbfolge nach ihr kamen. Ohne formale Toterklärung aber kein Erbe.

Christian Gehring, mittlerweile Rentner und nicht mehr in England, sondern in Esslingen wohnhaft, setzte deshalb im Sommer 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, das formale Verfahren in Gang. Er brachte einen Familienregisterauszug bei, legte Verwandtschaftsverhältnisse dar und erklärte den Zusammenhang mit der Schiffskatastrophe im Jahr 1912.

Das Verfahren nahm seinen Gang: Die seit 30 Jahren Verschollene wurde mittels eines Aufgebots im „Regierungs-Anzeiger für Württemberg“ am 18. Juni 1942 aufgefordert, „. . . sich spätestens in dem auf 15. August 1942, vormittags 10 Uhr, vor dem obenbezeichneten Gericht anberaumten Aufgebotstermine zu melden, widrigenfalls die Todeserklärung erfolgen wird“. Wie erwartet meldete sich Emilie nicht – und wurde in einer weiteren Anzeige „durch Beschluss vom 26. August 1942“ für tot erklärt. Die leicht angegilbten Zeitungen mit diesen Bekanntmachungen sind in der Akte im Staatsarchiv ebenso aufbewahrt wie die Rechnungen für das ganze Procedere, Briefe oder ein Vermerk eines Bezirksnotars aus Kirchhausen vom November 1942 an das Amtsgericht Backnang, dass das Erbe für die Verschollene rund 1000 Reichsmark betragen habe. Im richterlichen Todeserklärungsbeschluss prangt, wie auf den anderen behördlichen Dokumenten in dieser Sache, der nationalsozialistische Reichsadler.

In Emilies Geschichte bleiben viele Fragen offen. Für Elke Koch ist die Akte, die mitunter auch bei Führungen im Staatsarchiv gezeigt wird, dennoch ein außergewöhnliches Zeitdokument. Einerseits in sozialgeschichtlicher Hinsicht – „weil sie ein Beispiel dafür ist, dass wir Württemberger schon damals hochmobil waren, emigriert sind und zu neuen Ufern aufbrachen“, sagt sie. Aber auch, „weil Emilie Gehring den kleinen Finger in die große Weltgeschichte klemmt“.