Eine Million Tote im Jahr: In dem investigativen Wirtschafts-Thriller „Gift“ und der anschließenden Dokumentation prangert der Filmemacher Daniel Harrich den milliardenschweren Handel mit gefälschten Medikamenten an.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Es ist ein ungeheuerlicher Skandal: Eine Million Menschen sterben jährlich an gefälschten Medikamenten. Deren Tod nimmt die Pharmaindustrie billigend in Kauf, indem sie mit Mogelpackungen, die entweder unwirksam oder gar giftig sind, einen Umsatz von 430 Milliarden Dollar im Jahr erzielt. In Deutschland gehen Experten von einer Fälschungsrate von einem Prozent aus – bei 1,4 Milliarden verkauften Packungen im Jahr sind das immerhin 14 Millionen.

 

In weitaus größerem Umfang trifft es die Malaria-, HIV-, Krebs- oder Typhus-Kranken in armen Ländern. Denn dort gibt es, im Gegensatz etwa zu Europa, keinerlei Kontrollsysteme. Und „die Branche hält dicht“, wie der fiktive Pharmahändler Günther Kompalla sagt, just in dem Moment, in dem er sich anschickt, zum Whistleblower zu werden und Interpol zu helfen, diesen weitgehend unbekannten „Massenmord“ aufzudecken.

Den Skandal ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken: Das ist das große Verdienst des as ist das große Verdienst des ARD-Themenabends „Gefährliche Medikamente“. Um seinen investigativen Wirtschaftsthrillers „Gift“ (17. Mai, 20.15 Uhr) herum hat der Autor und Regisseur Daniel Harrich ein ganzes Medienpaket geschnürt: Im Anschluss folgt eine Dokumentation (21.45 Uhr), die seine jahrelangen Recherchen zusammenfasst, hinzu kommen Beiträge in Hörfunk und Internet.

„Gift“ wirkt wie eine blasse Blaupause

Es ist nicht das erste Mal, das Harrich so einen Investigativ-Komplex auftischt; ähnlich aufgebaut war auch sein Bündel zu illegalen Waffenexporten rund um den Politkrimi „Meister des Todes“ im September 2015; in „Der blinde Fleck“ thematisiert er 2013 das Oktoberfestattentat. Doch Harrich erreicht dieses Mal nicht mehr die hohe Latte, die er mit dem trotz komplexer Thematik emotionalen, packenden Waffenhandel-Thriller überwinden konnte. „Gift“ wirkt im Vergleich wie eine blasse Blaupause: Es gelingt nicht, aus den von reiner Geldgier gespeisten Verbrechen der Pharmaindustrie und ihren so geschickt kaschierten Verflechtungen mit Staatsorganen, Politik und Wissenschaft ein überzeugendes TV-Drama zu schmieden.

Die Figuren, so professionell sie von erstklassigen Darstellern verkörpert werden, kommen über den Status reiner Funktionsträger nicht hinaus, bleiben Behauptung, auch wenn genau das laut dem Co-Autor Gert Heidenreich vermieden werden sollte. Da ist die taffe Julia Koschitz als Interpol-Ermittlerin Juliette Pribeau, die bei einer Razzia in Tschechien dem Fälschersyndikat auf die Spur kommt, da ist ihr Gegenspieler, Günther Kompalla: Der Münchner Pharma-Zwischenhändler will sich nur deshalb aus dem miesen Geschäft herausziehen, weil er sich, unheilbar an Krebs erkrankt, mit seiner Tochter Katrin (Luise Heyer) aussöhnen will. Und diese Tochter ist die idealistische Ärztin, die in den Slums des indischen Mumbai mit ihrem Freund und zukünftigen Ehemann Kiran (Arfi Lamba) genau das Elend zu lindern versucht, das ihr Vater mitverursacht.

Zwei Generationen, zwei Weltsichten, zwei Ethiken – wie oft hat man das schon gesehen? Lauterbach, der auch schon in „Meister des Todes“ beteiligt war, bewahrt seiner Figur immerhin etwas Diffuses, Undurchdringliches, an der Schablonenhaftigkeit der Vater-Tochter-Konstruktion ändert das indes nichts. Zum weiteren Pappkameraden-Personal zählen der Finanzschurke in Gestalt des Schweizer Bankiers und Investors Kälin (Ulrich Matthes), der moralfreie Pharmamanager Adler (Martin Brambach), und, last but not least, die Lobbyistin und Wissenschaftlerin Vera Edwards, die als Spinne im Netz mit allen Beteiligten über unsichtbare Fäden verwoben ist.

Eine dunkle Spinne in Gestalt eines Engels

Perfiderweise haben die Filmemacher dieser überaus dunklen Gestalt die Erscheinung eines makellosen, hell leuchtenden Engels gegeben: eine schöne Volte, wie Maria Furtwängler hier gegen die Erwartungshaltung des Publikums besetzt wurde. Was jedoch fehlt, ist ein emotionaler Anker, eine Identifikationsfigur. Die Interpol-Frau Pribeau kann das nicht sein, dazu bleibt sie viel zu oberflächlich, ohne Reibungspunkte, auch wenn man versucht, ihr mit ein, zwei Mini-Sequenzen einen inneren Konflikt anzuheften: Weil sie sich ganz der Karriere widmet, leidet ihre Beziehung zu ihrer Tochter, die beim Vater lebt.

So will „Gift“ einfach zuviel auf einmal sein: aufdeckender Wirtschaftsthriller, Familiendrama und dazu auch noch Gesellschaftsporträt, denn mit seinem preisgekrönten Kameramann Gernot Roll gibt sich Harrich sehr viel Mühe, erste und dritte Welt mit maximalem Kontrast gegeneinander zu schneiden. So prasselt auf die armseligen Slumhütten, die sich in Mumbai wie ein Teppich zwischen den Hochhäusern der Bessergestellten ausbreiten, fast ständig der Monsunregen nieder und macht das Elend der Elenden noch größer; die spiegelnde Leere des Luxushotels, in dem Kompalla residiert, will ganz offensichtlich die Einsamkeit und Kälte, die ihn umgibt, vervielfachen. Dann wieder taucht die Kamera folkloristisch in die Hindu-Rituale der Hochzeit von Katrin und Kiran ein.

Den Zuschauer erwartet eine bittere Schlusspointe

Das ist Jammern auf hohem Niveau, insgesamt ist „Gift“ ein gut gemachter Thriller; löblich auch, dass trotz der komplexen Thematik nicht zuviel geredet wird, eine sehr bittere Pointe entlässt den Zuschauer mit dem sehr unguten Gefühl, dem Netz der Spinne nicht entkommen zu können.

Man kann also gar nicht anders, als diesem Film, dem ganzen Themenabend ein überdurchschnittliches Interesse zu wünschen. Dass die Kraft des Fiktionalen in der realen Welt etwas in Bewegung bringen kann, hat Harrich schließlich schon einmal bewiesen: Derzeit sind mehrere strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen deutsche Kleinwaffenhersteller in Gang, die auf seinen Enthüllungen basieren.