Drei Viertel aller Stuttgarter bezeichnen sich zwar als religiös, aber die Bindungskraft zu den christlichen Amtskirchen nimmt weiter ab. Nur noch 45 Prozent gehören ihnen an.

Stuttgart - Martin Schairer, der scheidende Ordnungsbürgermeister und Religionsbeauftragte der Stadt, hat im ersten Moment etwas ungläubig geschaut. Denn die Antworten auf die Frage „Wie glaubt Stuttgart?“ hat er in dieser Art nicht erwartet. „Wir waren von der religiösen Vielfalt überrascht“, sagte Schairer, der am Montag zusammen mit dem katholischen Stadtdekan Christian Hermes und dem städtischen Statistiker Ansgar Schmitz-Veltin den „Atlas der Religionen“ im Haus der Katholischen Kirche vorstellte. Die bundesweit einzigartige Dokumentation wirft auf 190 Seiten einen Blick auf 250 Glaubensgemeinschaften aller fünf Weltreligionen und darüber hinaus, die in der Stadt beheimatet sind.

 

Ausgangspunkt der Arbeit war die Idee des Rats der Religionen, grundsätzlich alle Religionsgemeinschaften zu kennen und sie an einen Tisch zu bekommen. Natürlich mit „der programmatischen Absicht verbunden“, in der Unterschiedlichkeit des Glaubens die Gemeinsamkeiten der Werte als Stuttgarter zu entdecken, wie Oberbürgermeister Fritz Kuhn im Vorwort der Publikation betont. Und die lauten: „Zusammenhalt, Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft.“ Für Christian Hermes ist der Atlas daher ein guter Schritt, „ins Gespräch zu kommen, um zum Frieden in der Stadt beizutragen“.

180 Nationen, 250 Glaubensgemeinschaften

Nun also ist bekannt, wer von den 180 Nationen der Stadt die jeweiligen Ansprechpartner sind, wie und wann sie ihre Feste feiern und wie sie ticken. „Wenn ein Miteinander in einer pluralen Gesellschaft gelingen soll, sind nicht gleichgültige Unkenntnis, sondern Verständnis, Interesse und Wissen übereinander die Grundlage für eine fruchtbare Verständigung“, sagt Christian Hermes. Ebenso wie für ihn ist es auch für Martin Schairer wichtig, mit allen Beteiligten „dieses geistigen und spirituellen Rückgrats der Stadt“ ins Gespräch zu kommen.

Was im Jahr 1900 noch einfach war, ist heute tatsächlich sehr komplex. Gegenwärtig bezeichnen sich nach den Ergebnissen einer Befragung zwar rund drei Viertel aller Stuttgarter als in irgendeiner Form religiös, aber bisher waren diese 52,4 Prozent eine graue Masse. Vor 120 Jahren sah das Ganze noch so aus: 82,5 Prozent aller Stuttgarter waren evangelisch, 15,4 Prozent römisch-katholisch und 2,1 Prozent grau. Soll heißen: Sie hatten keine Zugehörigkeit zu einer öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft.

Zudem zeigt der Atlas der Religionen, dass Religiosität und Religionszugehörigkeit zwei Paar Stiefel sind. „Anders als ein erster Blick auf die Zugehörigkeit der Stuttgarter Bevölkerung zu öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften vermuten lässt, spielt die Religiosität für viele Menschen in der Stadt nach wie vor eine wichtige Rolle“, sagt Ansgar Schmitz-Veltin, der seine Erkenntnisse aus Daten der Bürgerumfrage 2019 nimmt. Fazit: Einerseits sind nicht alle Kirchenmitglieder besonders religiös. Andererseits leben viele sehr religiöse Menschen in Stuttgart, die kein Mitglied einer der beiden großen Kirchen sind. Drei Viertel der Stuttgarterinnen und Stuttgarter bezeichnen sich in der Umfrage als zumindest ein wenig religiös, 23 Prozent beten mindestens einmal in der Woche, und gut 20 Prozent der Menschen glauben sehr stark an Gott oder etwas Göttliches. Demgegenüber liegt der Anteil der nicht religiösen Menschen nach Schätzungen bei rund einem Viertel. „Glaube und Mitgliedschaft in einer traditionellen Kirche entkoppeln sich immer mehr“, sagt Ansgar Schmitz-Veltin. Hermes ergänzt: „Der Atlas kann sehr gut zeigen, dass nicht nur die Vielfalt der Religionen, sondern auch der Organisationsformen von Religion zugenommen haben.“

Kirchensteuer als Austrittsgrund

Wie die Entwicklung seit 1900 zeigt, geht der Zuwachs an Vielfalt zu Lasten der beiden großen Amtskirchen. Nur noch 45 Prozent der Stuttgarter gehören ihnen an. Sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche in Stuttgart haben in absoluten Zahlen 2019 so viele Kirchenmitglieder wie noch nie durch Austritte und Todesfälle verloren (Saldo der evangelischen Kirche: minus 3635 Mitglieder, katholischen Kirche: minus 2818 Mitglieder). Die meisten treten im Alter um die 30 Jahre aus – wenn sie in den Beruf einsteigen und Kirchensteuer zahlen.

Für Martin Schairer stellt sich damit auch die Frage: Wie geht die Stadtverwaltung mit diesen Zahlen um? Weiter kann es so aus seiner Sicht nicht gehen: „Diese Heterogenität bedeutet auch, dass man die Stadt anders ansprechen und wahrnehmen muss. Ob das in den Schulen, den Kitas oder aber in Baurechtsfragen ist. Wir brauchen neue Antworten auf diese Heterogenität.“