Weil die Beschäftigten von Auslandstöchtern bei der Wahl des Aufsichtsrats ausgeschlossen sind, hält die EU-Kommission das deutsche Mitbestimmungsgesetz für europarechtswidrig.

Stuttgart - Die EU-Kommission macht Front gegen die Mitbestimmung in Deutschland. In der Stellungnahme zu einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) erklärt die EU-Kommission den Umgang mit ausländischen Beschäftigten bei Aufsichtsratswahlen für unvereinbar mit dem Recht auf Freizügigkeit in der EU: Sie können weder Aufsichtsratsmitglieder wählen noch Mitglied im Aufsichtsrat werden. Für deutsche Mitarbeiter bedeutet dies, dass sie beim Wechsel zu einer Auslandstochter ihr Wahlrecht verlieren, was aus Brüsseler Sicht das Recht auf Freizügigkeit verletzt. Es sei unvereinbar mit diesem Recht, so heißt es in der 15-seitigen Stellungnahme, die der Stuttgarter Zeitung vorliegt, „dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern einräumt, die in den Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind“.

 

Der EuGH befasst sich erstmals mit der Mitbestimmung (Rechtssache C-566/15). Den Anlass gab die Klage eines Kleinaktionärs gegen die Zusammensetzung des Aufsichtsrats beim Touristikkonzern Tui. Das Berliner Kammergericht wollte vorab von den Luxemburger Richtern wissen, ob das Mitbestimmungsgesetz gegen europäisches Recht verstößt. Das Kammergericht selbst hielt dies für „vorstellbar“, weil Tui vier Fünftel seiner Belegschaft im Ausland hat, aber diese Beschäftigten – wie bei allen deutschen Konzernen – von der Vertretung im Aufsichtsrat ausschließt. Das Urteil wird für Anfang 2017 erwartet.

Vor zwei Wochen hat der Kommissionspräsident noch gratuliert

Vorher haben neben der EU-Kommission alle Mitgliedstaaten sowie weitere Beteiligte die Möglichkeit zur Stellungnahme. Die Bundesregierung, so ist zu hören, hält das Gesetz erwartungsgemäß für europakonform; auch Österreich soll sich positiv geäußert haben. Norbert Kluge, Leiter der Abteilung Mitbestimmungsförderung bei der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, versteht das Gutachten der EU-Kommission als politische Stellungnahme. „Gesellschaftsrecht ist eigentlich EU-Recht, da stört die Mitbestimmung offensichtlich den Anspruch der EU-Kommission auf Rechtsetzung“, glaubt er.

Die Erklärung der EU-Kommission ist durchaus pikant, weil Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker noch zum 40. Jubiläum des Mitbestimmungsgesetzes vor gerade mal zwei Wochen dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) diese Glückwünsche geschickt hat: „Zu einer Wirtschaft, die den Menschen dient, gehört der faire Ausgleich der Interessen zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Mitbestimmung ermöglicht genau diesen Dialog.“ Auch vor den Wahlen zum Europaparlament 2014 hatte der Christdemokrat die Mitbestimmung gelobt. Kluge misstraut den Schalmeienklängen freilich: „Ich bin nicht überzeugt davon“, sagt er, „dass sich Jean-Claude Juncker für die harte Form der Mitbestimmung in der europäischen Gesetzgebung wirklich ins Zeug legen würde, also für eine Beteiligung der Arbeitnehmer, die über Unterrichtungs- und Anhörungsrechte hinausgeht.“

Das Landgericht hat Argumentationshilfe geleistet

Für Kluge ist völlig klar, dass die deutsche Mitbestimmung nicht für Arbeitnehmer im Ausland gelten kann, da der Geltungsbereich des Gesetzes an der deutschen Grenze endet. Die EU-Kommission sieht das anders und hält die Beteiligung von Mitarbeitern im Ausland für durchaus möglich – ohne neue Gesetze. Kluge wundert sich: „Vielleicht könnte eine deutsche Konzernmutter Wahlen bei ihrer Tochter im Ausland durchführen lassen“, sagt er. „Aber ohne ein entsprechendes Gesetz in dem Land würden sie wohl kaum den demokratischen und rechtsstaatlichen Ansprüchen an solche Wahlen genügen. Dieser Weg würde vor allem keinerlei Rechtssicherheit für die Unternehmen bieten.“

Die Kommission untermauert ihre Position nur mit einem Urteil des Landgerichts Frankfurt (Aktenzeichen 3-16 O 1/14), mit dem aber keine Wahl im Ausland angeordnet wurde. Die Deutsche Börse hatte mit Blick auf die Zahl der Beschäftigten im Inland den Aufsichtsrat nach dem Drittelbeteiligungsgesetz gebildet. Das Landgericht bezog jedoch auch die ausländische Belegschaft mit ein und verpflichtete die Börse auf das Mitbestimmungsgesetz, das für größere Unternehmen gilt – und damit zur paritätischen Besetzung des Aufsichtsrats. Begründung: „Der Wortlaut des Mitbestimmungsgesetzes und auch des Drittelbeteiligungsgesetzes nimmt an keiner Stelle im Ausland Beschäftigte von der Mitbestimmung aus.“ Das wurde 1976 für nicht erforderlich gehalten und stand damals nur im Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zum Gesetzentwurf.

Die Deutsche Börse hat gegen das Urteil des Landgerichts Berufung eingelegt.