Chaos bei der Ausländerbehörde Wie Stuttgart die Existenz ausländischer Bürger gefährdet

Täglich warten mehr als 100 Menschen vor der Ausländerbehörde - die meisten vergebens. Foto: StZN

Die Rathausspitze in Stuttgart scheint mit der Situation in der Ausländerbehörde überfordert. Auch im Winter werden die Menschen im Freien übernachten müssen.

Rayeen liegt am frühen Montagmorgen regungslos vor der Tür der Stuttgarter Ausländerbehörde in der Eberhardstraße. Weder frühe Passanten noch späte Heimkehrer nehmen Notiz von ihr. An dieser Ecke auf dem Josef-Hirn-Platz ist das Alltag. Die junge Frau hat sich eine Decke übergeworfen, denn in der Nacht ist es kalt gewesen. Ab und an scheint ein blaues rechteckiges Licht auf – dann schaut sie auf ihr Handy und zählt die letzten der 1290 Minuten, die sie seit Sonntagvormittag auf die Schalteröffnung gewartet hat, um das Problem mit ihrer abgelaufenen Aufenthaltsgenehmigung zu klären. Durchhalten, bis der Sachbearbeiter kommt – das könnte man ebenfalls Stuttgart 21 nennen.

 

33 000 Mails warten noch darauf, gelesen zu werden

Auch die mehr als 100 ausländischen Stuttgarter in der Schlange hinter Rayeen, darunter Familien mit Kindern, hegen die Hoffnung auf ein persönliches Gespräch. Viele haben dazu ebenfalls eine ganze Nacht angestanden. Sie alle eint, keinen Termin mit der Ausländerbehörde vereinbart zu haben – weil es schlichtweg nicht möglich ist.

Abteilungsleiter Joost Raue hat eingeräumt, dass derzeit 33 000 Mailanfragen unbeantwortet seien. Dass keine gelöscht werde, ist nur ein schwacher Trost. Und ans Telefon geht in der personell ausgezehrten Behörde auch niemand mehr. Und das, obwohl an einem gültigen Aufenthaltstitel Existenzen hängen. Eine Frau weint und schreit, weil die versprochenen Papiere nicht vorliegen und sie ihren Urlaub stornieren muss, andere können keine Geschäftsreisen buchen, den Arbeitgeber nicht wechseln oder eine neue Stelle nicht antreten. Es droht der Verlust des Jobs, des Studien- oder Praktikumsplatzes.

Ein Drittel der Stellen ist unbesetzt

Von 170 Stellen in dem Amt ist ein Drittel unbesetzt, der durchschnittliche Krankenstand beläuft sich auf 35 Tage. Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) will nun städtische Mitarbeiter zwangsverpflichten. „Das geht schief“, sagen mehrere Wartende, „die lassen sich doch sofort krankschreiben.“

Wenigstens gibt es kostenlosen Kaffee und Tee. Das hat Luigi Pantisano mit Parteifreunden organisiert. Der Politiker von der Linken ist derzeit das einzige Gemeinderatsmitglied, das die dramatische Lage kritisiert und die Rathausspitze – mit OB Nopper, dem verantwortlichen Bürgermeister Clemens Maier (Freie Wähler) und der am Montag ihren Dienstantritt feiernden Ordnungsamtsleiterin Susanne Scherz – zum sofortigen Handeln auffordert. Er sagt, es wäre nett, wenn sich der eine oder andere Ratskollege von anderen Fraktionen auch einmal zur Beratung an diesen Unort begeben würde. Sein Vorwurf, es herrsche im Amt keine Willkommenskultur, sondern eine „Ablehnungskultur“, mit der er bei Maier eine trotzige Replik provozierte, sieht er morgens um fünf angesichts der langen Schlange mehr als bestätigt: „So praktiziert die Stadt Stuttgart die Anwerbung dringend benötigter internationaler Fachkräfte: Indem sie ihnen signalisiert, bevor ihr hier arbeiten könnt, müsst ihr erst eine Nacht im Freien verbringen – und nicht nur jetzt, sondern auch im Winter.“

Erst im Freien übernachten, dann eine Stelle antreten

Die Nummer 28 in der Reihe hat auch auf einen Notfalltermin gehofft und deshalb seit Mitternacht ausgeharrt, nachdem es am Freitag auf Rang 41 nicht gereicht hatte. Weil die Aufenthaltsgenehmigung der Erzieherin Ende August abgelaufen ist, ohne dass die Stadt auf die vor Monaten beantragte Verlängerung reagiert hat, wurde sie von ihrem Arbeitgeber aus Furcht vor Kontrollen wegen illegaler Beschäftigung kurzerhand beurlaubt – und das, obwohl das Aufenthaltsgesetz besagt, dass die Genehmigung bis zur neuerlichen Entscheidung der Behörde fortbesteht. Die kalte Nacht hat sich für sie nur bedingt gelohnt: Es reichte lediglich für eine Fiktionsbescheinigung. Dieses Ersatzpapier gilt die nächsten sechs Monate, dann heißt es erneut anstehen, denn einen fixen Gesprächstermin hat sie nicht bekommen.

„Buschi“ regelt den Verkehr

Bozidor Heric, die Nummer zwei in der Schlange, hat sich den „Preis des städtischen Mitarbeiters des Wochenendes“ verdient. Der kroatische EU-Bürger sagt, er habe sich nach zwei vergeblichen Versuchen für die Tortur von Sonntagmittag an entschieden, um bürokratische Hilfe für seine serbische Ehefrau zu erbitten. Notgedrungen, weil die Nummer eins nicht wollte, übernahm „Buschi“, wie er in der Schlange genannt wird, die Führungsrolle. Die von ihm geführte Namensliste ist dann auch Gesetz. Ordnung muss sein, auch im Chaos. So werden wenigstens Plätze während des Gangs zur Toilette in der fast durchgehend geöffneten Shishabar gesichert.

Luigi Pantisano stellt nach dem Ortstermin fest: „Die Schlange wäre viel kürzer, würde die Stadt mit geschultem Personal die Anliegen prüfen.“ Der ehemalige Einbürgerungsbotschafter der Landesregierung hat einen Wartenden kurzerhand nach Hause geschickt, weil er ihm den kurzen Weg zur Einbürgerung übers Internet aufzeigen konnte. Einen Mann hatte das Jobcenter wegen einer Bonuscard, die man problemlos online beantragen kann, vorbeigeschickt. Einem Iraker nimmt er die Sorge, mit einer Fiktionsbescheinigung nicht mehr einreisen zu dürfen. „Es braucht einfache Erklärungen, um Vertrauen zu schaffen“, sagt der Stadtrat. Die städtische Internetseite sei in dieser Hinsicht eine Katastrophe.

Allerdings hat OB-Sprecherin Susanne Kaufmann bereits betont, für Vor-Ort-Hilfe gebe es kein Personal. Und schnelle Antworten auf die drängenden Fragen gebe es auch nicht. Diese müssten erst durch „zahlreiche Kanäle“. Ob die Verwaltung den Wartenden ein WC spendiert, bleibt also offen. Nur so viel: Nopper, Maier und Scherz wollten am Abend über Verbesserungen sprechen.

Sicherheitsfirma berät und sortiert aus

Vor der Ausländerbehörde kommt Bewegung in die Schlange, wenn Hans Kunz auftaucht. Kunz und seine Kollegen von der Sicherheitsfirma MKS erscheinen um 7.30 Uhr. Ihre schwarze Kluft definiert das Machtgefälle. Sie bewachen aber nicht nur die Vordertür, sondern entscheiden auch, wer hineindarf und wer sich am nächsten Tag wieder anstellen muss. Dafür prüfen sie – Datenschutz hin oder her – tatsächlich wie zur Verschwiegenheit verpflichtete und speziell ausgebildete Sachbearbeiter Ausweise und Dokumente. Sie scheuen sich auch nicht, Rechtsauskünfte zu erteilen. „Wie kann das sein?“, fragt ein türkischer Mitbürger. Ihm sei die Eintrittskarte kurz nach dem Erhalt wieder entzogen worden mit der Erklärung, ohne gültigen Aufenthaltstitel werde man nicht vorgelassen – dabei ist das doch für die meisten der Grund, sich die Beine in den Bauch zu stehen.

Auch eine Koreanerin und ihr Freund erfahren an diesem Morgen, wie man mit ausländischen Spitzenfachkräften verfährt – und dass sie sich umsonst die Nacht um die Ohren geschlagen haben. Die Viola-Virtuosin hat am 1. September ihre Stelle bei den Münchner Symphonikern angetreten. Dafür braucht sie nach ihrem Masterabschluss in Köln nun zwingend ein Arbeitsvisum. Türsteher Kunz hört aber nicht richtig zu, erklärt, in Stuttgart kontrolliere eh niemand die Arbeitsbegrenzung für Studierende und weist dem konsternierten Paar barsch die Tür. Die Symphoniker müssen dann wohl vorerst auf ihre Bratschistin verzichten.

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