Vor 100 Jahren erfand Autobauer Henry Ford das Fließband. Das senkte zwar die Produktionskosten, erregt die Gemüter aber bis heute. 

Stuttgart - Vor hundert Jahren hatte Henry Ford die Idee, Autos am laufenden Band zu produzieren. Das senkte die Produktionskosten – und erregt die Gemüter bis heute. Die Arbeiter hielten diese monotonen Arbeiten nicht lange aus und kündigten scharenweise. In den siebziger Jahren wiederholte sich das Phänomen: In der Autoindustrie nahmen die Fehlzeiten und die Fluktuation zu. Die Reaktion darauf war das Projekt „Humanisierung der Arbeitswelt“, das den Abschied vom Fließband einläuten sollte. Doch in den neunziger Jahren stand das Thema Kosten im Vordergrund: Die Just-in-time-Produktion und eine immer stärkere Automatisierung galten als gebotene Lösung. Aber die Entwicklung ist weitergegangen. Jetzt kündigt sich ein neuer Ansatz für bessere Arbeitsbedingungen und eine effektivere Produktion an – das Konzept Industrie 4.0.

 

Henry Ford hatte nicht nur den Ehrgeiz, Autos zu bauen, er wollte sie auch möglichst preiswert produzieren. Statt das Mobil von geschickten Handwerkern gewissermaßen als Unikat zusammenbauen zu lassen, teilte er den Herstellungsprozess in 84 kleine Schritte auf. Jeder Arbeiter musste damit nur noch wenige Handgriffe beherrschen. Aus dem bisher handwerklich hergestellten Auto wurde ein einheitliches Massenprodukt. Am 14. Januar 1914 startete dann das erste mechanisch betriebene Fließband im Ford-Werk Highland Park in Detroit. Henry Ford konnte nach dieser Umstellung das Ford T-Modell – die Tin Lizzie – statt für 850 für 370 Dollar verkaufen und machte so die knatternden Kisten für die breite Masse der Bevölkerung erschwinglich. In handwerklicher Fertigung entstand ein T-Modell in 12 Stunden und 30 Minuten. Mit dem mechanisierten Fließband reichten eineinhalb Stunden, um ein T-Modell fertig zu stellen. Bis 1927 wurden mehr als 15 Millionen Ford T-Modelle gebaut – ein Rekord, den erst 45 Jahre später VW mit dem Käfer übertraf.

Stundenlöhne erhöht

Doch Henry Ford liefen die Fließbandarbeiter schnell wieder davon. Um die Fluktuationsrate von rund 90 Prozent in den Griff zu kriegen, erhöhte Ford die Stundenlöhne um das Doppelte auf fünf Dollar und senkte die Arbeitszeit auf acht Stunden. So konnte ein Ford-Bandarbeiter in vier Monaten den Kaufpreis eines T-Modells verdienen, wovon viele auch Gebrauch machten. Historiker sind sich einig: Henry Ford hat die Grundlage der modernen Konsumgesellschaft geschaffen.

Opel führte als erster deutscher Autobauer das Fließband ein. Ab 1924 wurde im 60-Sekunden-Takt der Zweisitzer „Laubfrosch“ montiert und startete zu einem sensationellen Absatzerfolg, nicht zuletzt wegen des Verkaufspreises von 4500 Mark. Der Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky lieferte dafür eine Erklärung: „Fortschritt ist Fordschritt“.

„Henry Ford hat das Fließband eingeführt. Volvo schafft es ab.“

Anfang der siebziger Jahre tönte Volvo-Chef Pehr G. Gyllenhammar: „Henry Ford hat das Fließband eingeführt. Volvo schafft es ab.“ Das Motiv: „Die Leute verlassen uns, weil sie keine Befriedigung in ihrer Arbeit finden.“ Volvo hatte damals mit Fluktuationsraten von bis zu 50 Prozent zu kämpfen, was zusammen mit einem hohen Krankenstand die Produktionskosten in den Automobilfabriken weltweit nach oben trieb. Statt wie bisher in monotoner Hetze am Band vorbeiziehende Karossen zu montieren, sollten nunmehr selbstständige Teams komplette Autos produzieren.

Im neuen Volvo-Werk Kalmar arbeiteten 15 bis 20 Monteure in einer Gruppe, die den kompletten Motor, das Fahrwerk oder die Elektrik zusammenbauten. Jeder Arbeiter musste mindestens ein Viertel der zahlreichen Handgriffe beherrschen. Immer wieder wurden die Arbeitsaufgaben gewechselt. Im Werk Uddevalla ging Volvo noch weiter. Dort baute jedes Team ein komplettes Auto zusammen. Allerdings: das Kalmar-Werk kostete zehn Prozent mehr als eine konventionelle Fabrik.

Schlanke Produktion als Zauberwort

Das schwedische Experiment beeinflusste auch die deutsche Autoindustrie. In den siebziger Jahren startete die Bundesregierung das Forschungsprogramm „Humanisierung des Arbeitslebens“. Dabei wurden neue Formen der Arbeitsorganisation erprobt: Arbeitsplatzwechsel, Arbeitserweiterung, Arbeitsbereicherung und teilautonome Arbeitsgruppen. VW testete im Werk Salzgitter die Gruppenmontage. Vier Gruppen mit je sieben Arbeitern bauten einen kompletten Sechs-Zylinder-Dieselmotor zusammen. Dieses vom Bundesforschungsministerium unterstützte Projekt wurde aber bald eingestellt. Das Argument: diese Gruppenmontage sei nur bei kleinen Stückzahlen und hochqualifizierten Leuten auch wirtschaftlich interessant.

In den neunziger Jahren wurde Japan zum Vorbild. Das Zauberwort hieß nicht mehr Teamarbeit, sondern Lean Production – schlanke Produktion. Elemente der Gruppenarbeit werden jedoch in die Fließbandfertigung integriert. Zudem vergaben die Autokonzerne immer mehr Arbeiten an Zulieferfirmen, verbunden mit der Vorgabe, die Teile „just in time“ zu liefern – also genau zu dem Zeitpunkt, an dem sie eingebaut werden sollen. Das funktionierte am besten mit einer straff organisierten Produktion – eben am Fließband. 1994 machte Volvo das Werk Kalmar zu. 1999 mussten die Schweden ihre defizitäre Personenwagensparte an die Ford Motor Company verkaufen. Mittlerweile ist die einst stolze Marke nach China verkauft worden.

Keine extreme Arbeitsteilung mehr

Zu einer extremen Arbeitsteilung wie 1914 bei Ford ist die Automobilbranche nicht zurückgekehrt. In der deutschen Fahrzeugindustrie sind die Arbeitsplätze abwechslungsreicher, und Betriebsräte wachen über das Arbeitstempo. Die bisher starre Montagelinie wurde durch Puffer und Gruppenarbeitsplätze aufgelockert. In der Gruppenarbeit montieren beispielsweise acht bis zwölf Mitarbeiter ein komplettes Cockpit, das dann am Fließband eingebaut wird. Für Frank Dreves, Produktionsvorstand bei Audi, ist „die Gruppenarbeit mittlerweile zentrales Element des Audi-Produktionssystems geworden“. Derzeit sind in der Summe rund 3000 Gruppen an den Audi-Standorten Ingolstadt, Neckarsulm, Györ (Ungarn) und Brüssel im Einsatz – ein Spiegel der zunehmenden Variantenvielfalt und Komplexität der Autos.

Gegenwärtig ist der ergonomisch gestaltete Arbeitsplatz das Ziel, weil so der Krankenstand gemindert und Arbeitsplätze für die immer älter werdende Belegschaft geschaffen werden. Die Autokonjunktur brummt, doch am Fließband wird es grau. Die gesamte deutsche Autoindustrie sieht sich im Brennpunkt eines allgemeinen Problems: Die Lebensarbeitszeit steigt, die Belegschaften altern rapide, Fachkräfte fehlen. Zwar bauen Audi, BMW und Mercedes ihre Werke in aller Welt aus, das Rückgrat der Produktion aber bleibt in Deutschland. Das gilt vor allem für die größten Gewinnbringer der Unternehmen, die Topmodelle A8, 7er-BMW und S-Klasse. Das Abfallen der Produktivität wegen einer alternden Belegschaft können sich die Autobauer nicht leisten. Spätestens vom Jahr 2020 an, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen, verschärft sich das Demografieproblem. Eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sieht einen umfassenden Lösungsansatz: „Altersgerechte Gestaltung von Produktionsarbeit bedeutet nicht nur, ältere Beschäftigte adäquat einzusetzen, sondern auch, jüngere Beschäftigte motiviert und gesund zu halten.“

Mehr Effizienz durch Flexibilität

Für Daimler-Vorstandsmitglied Andreas Renschler, zuständig für Einkauf und Produktion der Personenwagensparte, ist es besonders für Premiumhersteller zunehmend riskant, „seine Produktion hochwirtschaftlich, aber unflexibel zu fertigen“. In Zeiten von immer mehr Modellvarianten, stärkeren Marktschwankungen und kürzeren Innovationszyklen muss die Effizienz durch mehr Flexibilität gesteigert werden. Daimler setzt in einem Pilotprojekt Roboter nicht mehr isoliert ein, sondern stellt sie den Arbeitern gewissermaßen als Kollegen zur Seite. Je nach geforderter Stückzahl und Fertigungsumfang nehmen die Mitarbeiter einen oder mehrere Roboter hinzu, die den Menschen beispielsweise bei ermüdenden und unangenehmen Produktionsschritten unterstützen. Diese Roboter sind gerade mal 15 Kilogramm schwer und wurden ursprünglich für die Raumfahrt entwickelt. Daimler geht davon aus, dass diese Art der Mensch-Roboter-Kooperation nicht nur die Qualität erhöht, sondern auch die Produktivität um bis zu 30 Prozent steigern kann.

Nach Jahren der eintönigen Massenfertigung könnte die Industrie zu ihren Wurzeln zurückfinden, nämlich in eine Epoche, als Produkte zumeist Einzelanfertigungen waren, hergestellt in Manufakturen. Diese Zeit der Individualität soll wiederaufleben, allerdings mit den Mitteln und Methoden des Internetzeitalters – das Schlüsselwort: Industrie 4.0. Es soll eine hochflexible Fabrikwelt geschaffen werden, in der jeder Kunde genau das bekommt, was er will und das zu Kosten der Massenproduktion. Nach der Dampfmaschine, dem Fließband und der Computerisierung der Büros geht es jetzt in der vierten Stufe der industriellen Revolution um das Zusammenwachsen von Produktion und Internettechnologie – und um einen neuen Produktionsschub.