Was nützt ein Gurt, wenn der Fahrer die Lehne für ein Nickerchen schräg gestellt hat? Autonom fahrende Autos erfordern neue Sicherheitstechnik. ZF sieht darin großes Wachstumspotenzial – und geht auf Investorensuche für die Sparte Passive Sicherheit.

Automobilwirtschaft/Maschinenbau: Matthias Schmidt (mas)

Der erste Sicherheitsgurt wurde vor mehr als 120 Jahren in ein Auto montiert, der erste Airbag auch schon vor 43 Jahren. Seither sind die Systeme zum Schutz der Insassen bei Unfällen ständig weiterentwickelt und optimiert worden. Wesentliche Fortschritte dürften da kaum noch zu erzielen sein, könnte man denken. Aber das Gegenteil ist der Fall, sagt Rudolf Stark, der Chef der Division Passive Sicherheit beim Autozulieferer ZF Friedrichshafen, die am Hauptsitz in Alfdorf bei Schwäbisch Gmünd ihr Entwicklungszentrum betreibt.

 

Der 57 Jahre alte Manager rechnet damit, dass sein Geschäft vor einer Phase großer Innovationen steht und massiv wachsen wird. Hunderte von Millionen Euro pro Jahr müssten auf absehbare Zeit investiert werden, um bei den Entwicklungen vorn dran bleiben zu können. Denn das Spiel wird gleich in mehrerlei Hinsicht noch einmal neu aufgezogen. Ein Beispiel, das dies besonders gut zeigt, ist der Trend zum teil-autonomen Fahren.

Was nützt ein Airbag im Lenkrad, wenn der Fahrer den Sitz flachlegt?

Schon heute lassen es Assistenzsysteme von Mercedes und BMW zu, dass die Fahrerin oder der Fahrer das Lenkrad loslassen, sich vom Verkehr ab- und anderen Tätigkeiten zuwenden können. Eine Ruhepause mit zurückgefahrenem Sitz und schräg gestellter Rückenlehne während der Fahrt könnte schon in wenigen Jahren möglich und erlaubt sein. Was nützt dann noch ein Airbag, der im Lenkrad – und damit weit entfernt vom Fahrer – verbaut ist? Eine Lösung, an der ZF arbeitet, sind Airbags, die im Sitz untergebracht werden. Künftige Systeme sollen nicht nur über Sensoren und Kameras permanent den Innenraum erfassen und prüfen, in welcher Position sich der Fahrer gerade befindet, sondern schon vor dem Aufprall aktiv werden. Den Sitz aufrichten, den Körper zurückziehen, den Gurt straffen beispielsweise.

Auch aus anderen Aspekten der Auto-Transformation – Digitalisierung und Elektrifizierung – ergeben sich nahe liegende Folgen. So müssen die Sicherheitssysteme zwischen immer größeren Displays im Auto Platz finden. Und die schweren, steifen Batterien im Boden von E-Fahrzeugen verändern das Crashverhalten der Fahrzeuge.

Die Testkapazität wächst durch Digitalisierung der Versuche

„Jetzt nicht mehr blinzeln, sonst kann es sein, dass Sie den entscheidenden Augenblick verpassen!“, warnt Harald Lutz. Wenn der Entwicklungschef, was nur selten vorkommt, einem Besucher die Crashtestanlagen in Alfdorf zeigt, weiß er Anfängerfehler zu verhindern. Denn in Echtzeit lässt sich kaum erfassen, welche Kräfte hier entfesselt werden, allenfalls die Superzeitlupenkamera vermag das Geschehen zu erschließen.

Die neueste Testanlage, genannt Hydra, beschleunigt in 0,04 Sekunden von null auf hundert. ZF hat dafür rund eineinhalb Millionen Euro investiert. Der ganze Ablauf eines Unfalls von der Vollbremsung bis zum Crash und dem Rückstoßeffekt wird hier in einem Rutsch nicht nur physikalisch ausgeführt, sondern auch digital so vollständig erfasst, dass auf Basis der Daten weitere Simulationen möglich sind. Die Entwicklung neuer Sicherheitssysteme soll wesentlich beschleunigt werden, was besonders mit Blick auf künftige Anforderungen der Sicherheitstests nach NCAP-Standard wichtig wird: War früher der „Standardmann“ mit 1,75 Meter Größe und 78 Kilo Gewicht das Maß der Dinge, splittet sich die Entwicklung immer weiter auf. In Zukunft soll, so ZF, „ein gleiches Schutzniveau für eine Bandbreite von Größe, Gewicht, Geschlecht und Sitzpositionen“ erreicht werden. Auch dabei helfen Kameras im Fahrzeuginnenraum: Sie erkennen den jeweiligen Fahrertyp, um beispielsweise die Zugkräfte des Sicherheitsgurts und das Volumen des Airbags anzupassen.

Die Tests sind kostspielig, allein ein Versuchsdummy mit Dutzenden von eingebauten Sensoren kostet eine Million Euro. Vor allem aber erfordern die Forschung und der Aufbau von globalen Produktionskapazitäten enorme Finanzmittel – jedenfalls mehr, als der Mutterkonzern in Friedrichshafen aufbringen kann, der mitten im Umstieg von Verbrennungsmotorentechnik zur Elektromobilität steckt.

Der Chef der Division geht auf Investorensuche

„Wir könnten stark wachsen und wollen weltweit die Nummer eins im Bereich Passive Sicherheit werden“, sagt Rudolf Stark. Derzeit ist die ZF-Division mit 35 000 Mitarbeitern und 4,5 Milliarden Euro Umsatz die Nummer zwei hinter dem schwedischen Konkurrenten Autoliv, der rund das Doppelte erlöst. Um das Wachstum zu finanzieren, wird die ZF-Sparte bis Ende 2024 vollständig vom Konzern abgespalten und auf Investorensuche geschickt. Auch ein Teil-Börsengang wird geprüft.

Die ZF-Division Passive Sicherheit

Stammsitz
Mit rund 1700 Mitarbeitern ist das ZF-Werk in Alfdorf einer der wichtigsten Arbeitgeber im Welzheimer Wald. Um schneller wachsen zu können, soll die Sparte ausgegliedert werden und sich für Investoren oder einen Teilbörsengang öffnen. Betriebsbedingte Kündigungen sind für mindestens zwei Jahre ab einem möglichen Verkauf ausgeschlossen.

Globales Netzwerk
Während die Entwicklung zentral in Alfdorf vorangetrieben wird, ist die Produktion über den ganzen Globus verteilt. An 45 Standorten in 22 Ländern arbeiten insgesamt 35 000 Beschäftigte, davon rund 3000 in Deutschland.