Es folgte ein politisches Erdbeben. Die Grünen wurden bei der Gemeinderatswahl 2009 stärkste Partei, dann kam Kretschmann. Hätten Sie das je für möglich gehalten?

 

Nein. Ich habe viele Wetten und noch mehr Flaschen Wein verloren. Zum einen ist eine Regierung abgewählt worden, und zum anderen sind die Grünen mit dem Bahnhofsticket an die Regierung gefahren.

Vorher haben mit Oettinger und Mappus eher kühl wirkende Wirtschaftstechnokraten das Land regiert. Haben sich die Wähler auch nach mehr Wärme gesehnt?

Davon bin ich überzeugt. Ich glaube, dass die Baden-Württemberger einen grünen Erwin Teufel gewählt haben. Kretschmann ist glaubwürdig, strahlt Verlässlichkeit aus und kommt im Bürgertum gut an.

Nur mit den Autos hat er es nicht so. In einem Interview mit ihm standen die Worte "Porsche" und "pornografisch" ungewöhnlich nah beieinander.

Die Wucht der Proteste hat mich verblüfft. Plötzlich zeigte sich eine Bewegung mit enormer Kraft und einem gemischten Protestpublikum. Es kamen viele gut ausgebildete und honorige Leute, die anständigen Berufen nachgehen. Der Widerstand hatte eine intellektuelle Schärfe, die haben nicht nur ihre Wut rausgebrüllt, die haben bei den Demonstrationen meistens auch sauber argumentiert.

Die psychische Verfassung der Stuttgarter Halbhöhe ist daraufhin selbst von internationalen Medien ausgiebig untersucht worden.

Das ist ja das Absurde an der Geschichte: Stuttgart hat sich jahrzehntelang bemüht, in die internationalen Schlagzeilen zu kommen - vergeblich. Die Demonstranten haben es geschafft. Plötzlich kamen die "New York Times", "Le Figaro"...

...was dem Protest noch mehr Sex-Appeal verliehen hat.

Ich erinnere mich an den sagenhaften Auftritt eines Fernsehreporters. Der stand vor dem Bahnhof und rief "das ist Stuttgart: Ich bin begeistert, was hier los ist".

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass ausgerechnet in Stuttgart der vom TV-Mann gefeierte Wutbürger geboren wurde?

Es ist schwierig, sich darauf einen Reim zu machen. Aber mit Sicherheit hängt es mit einer Missachtung all jener zusammen, die gegen Stuttgart 21 sind. Sie wurden zu lange nicht einbezogen und nicht ernst genommen. Aber das würde als Erklärung nicht ausreichen. Die Motive der Demonstranten sind höchst unterschiedlich: Manchen geht es um den Bonatzbau, anderen um das Mineralwasser, wieder andere stört die Großbaustelle. Und die Weltverbesserer sind natürlich auch wieder mit dabei.

Teurer als geplant wird es bekanntlich auch.

Nennen Sie mir ein Großprojekt, das am Ende nicht teurer wurde als zunächst veranschlagt. Wenn das bei Stuttgart 21 anders kommen sollte, müssten alle nachträglich noch einen Orden bekommen. Mein Lieblingsspruch in dem Zusammenhang: Der teuerste Bahnhof Deutschlands trifft auf das geizigste Volk der Welt.

Das partout nicht einsehen wollte, warum es Milliarden von Euro dafür bezahlen soll, dass es schneller nach Bratislava kommt. Sie leben am Starnberger See. Wie sehen die Bayern den Schwabenstreit?

Mit großem Interesse. München soll ja auch einen Durchgangsbahnhof bekommen. Deshalb wird die Bürgerbeteiligung und das Geißlerthema sehr aufmerksam verfolgt.

Brauchen die Bayern eigentlich länger, bis sie auf die Palme klettern?

In Bayern findest man das "Mir-san-mir"-Prinzip öfter. Dazu gehört auch das "mir egal, was ich gestern gesagt habe". Nehmen Sie nur Münchens Oberbürgermeister Ude. Der war einmal gegen einen geplanten Straßentunnel. Dann gab es eine Volksabstimmung und eine Mehrheit dafür. Anschließend stellte er sich hin und sagte: gute Entscheidung, jawohl! Und war daraufhin der Erste, der bei der Eröffnung das Bändle durchschnitt.

In München regiert ein Volkstribun mit einem geringen Wendekreis. In Stuttgart ein Rathauschef, der seine Überzeugungen aktenkundig vorträgt.

Das darf man ihm nicht vorwerfen. Die Menschen sind verschieden. Aber eines muss man schon sagen: der OB und die früheren Landesregierungen haben den Zündstoff im Bahnhofsstreit lange Zeit nicht erkannt. Es genügt nicht, wenn man immer nur darauf hinweist, dass alles rechtskräftig und entschieden sei. Das hat letztendlich die Demonstranten zu Recht aufgebracht.

"Ein Bahnhof ist schließlich keine Kernkraft"

Es folgte ein politisches Erdbeben. Die Grünen wurden bei der Gemeinderatswahl 2009 stärkste Partei, dann kam Kretschmann. Hätten Sie das je für möglich gehalten?

Nein. Ich habe viele Wetten und noch mehr Flaschen Wein verloren. Zum einen ist eine Regierung abgewählt worden, und zum anderen sind die Grünen mit dem Bahnhofsticket an die Regierung gefahren.

Vorher haben mit Oettinger und Mappus eher kühl wirkende Wirtschaftstechnokraten das Land regiert. Haben sich die Wähler auch nach mehr Wärme gesehnt?

Davon bin ich überzeugt. Ich glaube, dass die Baden-Württemberger einen grünen Erwin Teufel gewählt haben. Kretschmann ist glaubwürdig, strahlt Verlässlichkeit aus und kommt im Bürgertum gut an.

Nur mit den Autos hat er es nicht so. In einem Interview mit ihm standen die Worte "Porsche" und "pornografisch" ungewöhnlich nah beieinander.

Ich glaube, dass sollte man als lässliche Anfangssünde verbuchen. Es bleibt jedem unbenommen, zu sagen, dass er kleinere Autos mit geringeren Emissionen mag. Aber wenn man in Stuttgart so frontal das Auto angreift, ist das schon eine Provokation.

Es heißt wohl nicht umsonst heilig's Blechle.

Die Leute, die beim Daimler, beim Bosch oder bei Porsche schaffen, sind stolz darauf. Das übersehen Politiker, wenn sie mit diesem Thema ideologisch umgehen. Die Manager der Konzerne sehen solche Aussagen gelassener - aber der normale Facharbeiter fühlt sich in seiner Ehre angegriffen. An der Stelle darf Herr Kretschmann durchaus ein bisschen geschickter werden.

Wenn dereinst ein grüner Bundeskanzler mit einem Elektro-Porsche vorfährt, sind die Gegensätze wieder versöhnt.

Das mit dem Elektroauto wird bis zur Massentauglichkeit noch eine Weile dauern. Da müssen die Grünen noch ein paar Legislaturperioden warten. Wenn Sie Ihr Auto heute tanken, sind Sie in drei Minuten fertig - beim Elektroauto dauert das die ganze Nacht. Die Ladefähigkeit der Batterien muss besser werden und ihr Preis sinken.

Dann kommt der Kanzler halt mit dem Fahrrad. Boris Palmer macht das in Tübingen schon vor. Das wäre originell.

Aber nicht so originell wie die Auftritte seines Vaters. Ich erinnere mich an einen OB-Wahlkampf des Remstalrebellen in Reutlingen. Der dortige CDU-Kandidat hat sich auf dem Plakat mit Frau und Kindern gezeigt. Darunter stand: "Ein Mann aus dem Volk." Da hat der alte Palmer seine Kinder geschnappt, hoch gehalten und gerufen: "Was der kann, kann I au!" Die Leute haben gejohlt.

Humor ist heute in Zeiten des Stuttgarter Bahnhofsstreits heikel geworden.

Zu Unrecht. Im Humor steckt immer ein Stück Wahrheit. Wenn man gemeinsam lacht, kommen unterschiedliche Positionen am schnellsten wieder zusammen.

Und wie lautet dann bei Stuttgart 21 die Schlusspointe, wenn die Dinge irgendwann entschieden sein werden?

Es wird so kommen wie immer in der Geschichte unseres Volksstammes: Erst gibt es einen Ausbruch, aber am Ende kneift der Schwabe. Das heißt: wenn alle rechtlichen und finanziellen Dinge endgültig geklärt sind, wird sich das Thema verlaufen. Ein Bahnhof ist schließlich keine Kernkraft. Ich weiß, dass ich den Gegnern damit auf die Füße trete. Aber in der Geschichte unseres Landes lief es immer so.

Anton Hunger: halb Bayer, halb Württemberger

Biografie

Anton Hunger war nicht nur Kommunikationschef bei Porsche (von 1992 bis 2009) - Hunger gilt auch als enger Vertrauter Wendelin Wiedekings, der als Chef des Unternehmens vor zwei Jahren gehen musste. Sein Lebenslauf zeigt, dass Hunger ein Hybrid-Wesen sein muss: halb Bayer, halb Baden-Württemberger.

Geboren wurde er im bayrischen Cham. Mitte der 60er Jahre machte er eine Ausbildung zum Schriftsetzer bei der Südwest-Presse in Metzingen, wo er anschließend auch volontierte. Später folgten journalistische Stationen in der Wirtschaftsredaktion der Stuttgarter Zeitung und beim Industriemagazin in München. Von dort wechselte er zu Porsche. Seit August 2009 arbeitet Hunger als Publizist und Kommunikationsberaterin Starnberg, wo er auch wohnt.

Autor

Land und Leute haben Anton Hunger schon immer interessiert - seit einigen Jahren schreibt der 63-Jährige auch darüber. Unter anderem war er an einem literarischen Kochbuch beteiligt, er schrieb ironisch über die "Spätzle-Connection" und das "Hauptstädtle". Zum Bestseller wurde seine "Gebrauchsanweisung für Schwaben", bei der auch der frühere StZ-Lokalchef Martin Hohnecker mitwirkte. Das Buch (Piper Verlag, 14,99 Euro) erscheint nun in einer überarbeiteten und erweiterten Neuauflage. Was bisher darin fehlte? "Der Schwabe und sein Hang zum Protest."