Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

So hilfreich der Zentralrat der Jesiden den Einsatz Baden-Württembergs auch findet, so sehr hofft er auf eine bessere Koordination. Da Hessen zum Beispiel auch ein Waisenhaus in der Region Dohuk aufgemacht hat und viele andere dort aktiv seien, mahnt Geisler: Man müsste all die europäischen Aktivitäten mehr bündeln. „So verliert manches seine Wirkung.“

 

Heftig hingegen klagt er die Bundesregierung an, weil sie zu wenig tue. „Null komma null Rückmeldung“ bekomme der Zentralrat auf seine Appelle, mehr Jesiden in Deutschland aufzunehmen. 2500 hielten sich noch auf dem griechischen Festland auf und ein paar hundert auf den Inseln, schildert Zentralratssprecher Holger Geisler. Viele hätten schon aufgegeben, weil sie lieber in der Heimat sterben wollten. Zwar hätten die Vereinten Nationen die Misshandlung und Ermordung Tausender Jesiden als Genozid bezeichnet. „Wenn es aber zugleich bedeutet, dass ein Genozid-Opfer kein Stück besser gestellt wird, wenn es nicht mehr Betreuung erhält und zu den Verwandten reisen darf, dann kann man sich das auch sparen“, rügt Geisler.

„Menschenunwürdigste Zustände in EU-Camps“

Drei Viertel der Jesiden in Griechenland hätten Verwandte ersten Grades in Deutschland und einen Rechtsanspruch darauf, zu uns zu kommen. Die Bundesrepublik sei mit nunmehr 150 000 Jesiden die größte Diaspora außerhalb des Iraks. Daher habe die Bundesregierung eine besondere Verantwortung. „Wo sollen Integration und Aufnahme gelingen wenn nicht hier?“ Stattdessen müssten sie „menschenunwürdigste Zustände“ ertragen. „Solche Lager wie in der EU habe ich noch nie erlebt“, vergleicht Geisler mit Camps im Irak oder Libanon.

Beispielhaft schildert er den Fall eines Jungen, der in Baden-Württemberg therapiert wird, weil er als Vierjähriger ansehen musste, wie seine Mutter vom IS ermordet wurde. Seither spricht er „kein Wort mehr“. Der Vater wurde in Griechenland gefunden. Doch ist der Junge kein Asylbewerber und darf den Vater nicht zu sich holen. Auch die Juristen in der Stuttgarter Staatskanzlei sehen sich Geisler zufolge machtlos und rieten ihm, ein Härtefallersuchen an die Bundesregierung zu stellen. Doch die wolle „keine Präzedenzfälle schaffen“. „Wenn man verhindert, dass die beiden Menschen zusammenkommen – wie menschlich ist Politik?“, fragt der Zentralratssprecher.

Selbst im nordirakischen Kurdistan existiere eine alleinstehende Frau ohne männliche Verwandte praktisch nicht, weil sie keine Papiere bekomme. Daher sei es auch so wichtig, dass Nadia Murad zur UN-Sonderbotschafterin ernannt worden sei. „Dies gibt den Menschen ein Stück Würde zurück.“

Auf drei Jahre ist das Programm angelegt, 95 Millionen Euro stellt das Land dafür bereit. Die Betroffenen sollen in der Zeit mit sozial- und traumapädagogischen sowie psychologischen Maßnahmen so weit gebracht werden, mit ihrem Schicksal zurecht zu kommen. „Sie sollen lernen, mit dem Trauma zu leben“, so Kizilhan. „Dann müssen sie entscheiden, ob sie hier bleiben wollen.“ Nach seinen Beobachtungen will die Mehrheit dies auch, weil sie im Augenblick für sich keine Zukunft im Irak sehen.

Eine individuelle Therapie haben die meisten betroffenen Frauen bisher abgelehnt. „Viele sind noch nicht soweit“, sagt Kizilhan. Um die schwere Traumatisierung verarbeiten zu können, sei innere Stabilität eine Grundvoraussetzung. „Man muss in der Lage sein, darüber zu sprechen.“ Viele hätten noch Verwandte in IS-Gefangenschaft, was auch ein Grund für das anhaltende Trauma sei. Bei Kindern gehe das schneller, weil sie sich in Schule etwas integrieren könnten.

Neues Institut für Psychotherapie im Nordirak

Dem Zentralrat wäre es daher auch wichtig, wenn man die Jesiden in ihrer Heimat vernünftig betreuen könnte. „Die Menschen in den Camps wollen alle in ihr altes Leben zurück“, sagt Geisler. „Das ist das Mindeste, was wir ihnen zugestehen müssen.“ Diesem Zweck dient auch ein Institut für Psychotherapie, das mit der Universität Dohuk aufgebaut werden soll – Kizilhan reist dazu in einer Woche in den Nordirak. Das Land stellt dafür eine Million Euro plus 320 000 Euro an Stipendiengeldern für Studierende bereit. Beteiligt ist neben der Dualen Hochschule auch die Universität Tübingen. Der erste Masterstudiengang beginnt Anfang 2017 – nach drei Jahren werden die ersten Absolventen in Flüchtlingscamps, Krankenhäusern und Sozialstationen eingesetzt.

In den kurdischen Flüchtlingscamps leben 1400 weitere jesidische Frauen und Kinder, die auch die Kriterien des Programms erfüllen. Dann kennt man noch 3200 bis 3800 Vermisste, die womöglich noch vom IS gefangen gehalten werden. „Wir wissen nicht, ob sie alle leben“, sagt Kizilhan. „Man geht davon aus, dass die Frauen zu 90 Prozent noch als Sklaven gehalten werden.“ Nicht wenige haben sich selbst getötet, um dem Martyrium zu entgehen. Die 400 bis 600 Männer seien eventuell schon hingerichtet worden.

Zentralrat der Jesiden rügt Bundesregierung

So hilfreich der Zentralrat der Jesiden den Einsatz Baden-Württembergs auch findet, so sehr hofft er auf eine bessere Koordination. Da Hessen zum Beispiel auch ein Waisenhaus in der Region Dohuk aufgemacht hat und viele andere dort aktiv seien, mahnt Geisler: Man müsste all die europäischen Aktivitäten mehr bündeln. „So verliert manches seine Wirkung.“

Heftig hingegen klagt er die Bundesregierung an, weil sie zu wenig tue. „Null komma null Rückmeldung“ bekomme der Zentralrat auf seine Appelle, mehr Jesiden in Deutschland aufzunehmen. 2500 hielten sich noch auf dem griechischen Festland auf und ein paar hundert auf den Inseln, schildert Zentralratssprecher Holger Geisler. Viele hätten schon aufgegeben, weil sie lieber in der Heimat sterben wollten. Zwar hätten die Vereinten Nationen die Misshandlung und Ermordung Tausender Jesiden als Genozid bezeichnet. „Wenn es aber zugleich bedeutet, dass ein Genozid-Opfer kein Stück besser gestellt wird, wenn es nicht mehr Betreuung erhält und zu den Verwandten reisen darf, dann kann man sich das auch sparen“, rügt Geisler.

„Menschenunwürdigste Zustände in EU-Camps“

Drei Viertel der Jesiden in Griechenland hätten Verwandte ersten Grades in Deutschland und einen Rechtsanspruch darauf, zu uns zu kommen. Die Bundesrepublik sei mit nunmehr 150 000 Jesiden die größte Diaspora außerhalb des Iraks. Daher habe die Bundesregierung eine besondere Verantwortung. „Wo sollen Integration und Aufnahme gelingen wenn nicht hier?“ Stattdessen müssten sie „menschenunwürdigste Zustände“ ertragen. „Solche Lager wie in der EU habe ich noch nie erlebt“, vergleicht Geisler mit Camps im Irak oder Libanon.

Beispielhaft schildert er den Fall eines Jungen, der in Baden-Württemberg therapiert wird, weil er als Vierjähriger ansehen musste, wie seine Mutter vom IS ermordet wurde. Seither spricht er „kein Wort mehr“. Der Vater wurde in Griechenland gefunden. Doch ist der Junge kein Asylbewerber und darf den Vater nicht zu sich holen. Auch die Juristen in der Stuttgarter Staatskanzlei sehen sich Geisler zufolge machtlos und rieten ihm, ein Härtefallersuchen an die Bundesregierung zu stellen. Doch die wolle „keine Präzedenzfälle schaffen“. „Wenn man verhindert, dass die beiden Menschen zusammenkommen – wie menschlich ist Politik?“, fragt der Zentralratssprecher.

Selbst im nordirakischen Kurdistan existiere eine alleinstehende Frau ohne männliche Verwandte praktisch nicht, weil sie keine Papiere bekomme. Daher sei es auch so wichtig, dass Nadia Murad zur UN-Sonderbotschafterin ernannt worden sei. „Dies gibt den Menschen ein Stück Würde zurück.“