Als sie klein war, hat der Vater sie regelmäßig vergewaltigt. Warum Pola Kinski erst jetzt die Kraft gefunden hat, den Filmstar Klaus Kinski als Kinderschänder zu enttarnen, hat sie der StZ-Redakteurin Nadia Köhler erzählt.

Nachrichtenzentrale: Nadia Köhler (nl)

Stuttgart - Fast vierzig Fieber, verstopfte Nase, kratziger Hals. Eigentlich sollte sie im Bett liegen, schlafen oder Tee trinken. Stattdessen hat sie sich ein petrolfarbenes Kleid angezogen, die langen blonden Haare perfekt frisiert und bestellt Cappuccino. Pola Kinski fände es respektlos, einem angereisten Gesprächspartner kurzfristig abzusagen. Sie lässt sich trotz ihres Zustandes diszipliniert und offen auf ein Gespräch ein. Sich nicht gehen lassen, weitermachen, egal wie es einem gehen mag, das scheint ihr Lebensmotto zu sein.

 

Pola Kinski wurde 1952 in Berlin geboren als Tochter von Gislint Kühbeck und dem Schauspieler Klaus Kinski. 21 Jahre nach dem Tod ihres Vaters hat sie Anfang des Jahres ihr Buch „Kindermund“ veröffentlicht, in dem der deutsche Leinwandstar demontiert wird: Sie beschreibt darin, wie ihr Vater sie vierzehn Jahre lang körperlich und seelisch missbraucht hat. Ihre Jugend verbringt Pola Kinski hin- und hergeschoben zwischen der Mutter, die eine neue Familie gegründet hat, und dem exzentrischen, herrischen Vater, der das Kind zum Sexualobjekt degradiert. Mit „Kindermund“ ist Pola Kinski aber mehr gelungen, als eine neue Klaus-Kinski-Rezeption anzustoßen. Mit ihrem Buch hat sie den Opfern sexuellen Missbrauchs eine starke Stimme gegeben. Stark, weil ihr gelungen ist, worum Opfer mit ähnlichen Schicksalen oft vergeblich kämpfen. Opfersein ist nicht das, was Kinskis Biografie ausmacht: „Ein Opfer ist jemand, der an den tiefen Verletzungen, die ihm zugefügt worden sind, kaputtgeht. Aber ich habe immer weitergemacht“, sagt sie.

Ihre eigenen Kinder sagen: „Mama, wir sind stolz auf dich“

Wie kann sich jemand, der in seiner Kindheit derart vernachlässigt und gedemütigt wurde, zu einem ausgeprägten Familienmenschen entwickeln? Wie schafft es jemand, der als Kind Liebe nur als eine perverse Form von Bindung an den Vater erlebt hat, seit 36 Jahren mit dem gleichen Partner zusammenzuleben und drei Kinder großzuziehen? Und wie kann jemand, der sich von der Mutter ungeliebt gefühlt hat, sich selbst zu einer fürsorglichen Mutter entwickeln, der die Kinder heute sagen: „Mama, wir sind stolz auf dich?“

Auf den ersten Blick scheint die Antwort einfach zu sein. „Ich hatte nur zwei Möglichkeiten. Entweder ich bringe mich um, oder ich mache weiter. Ich wollte aber unbedingt leben und Schönes im Leben erleben“, sagt Kinski. Doch was heute so abgeklärt klingt, muss lange die Hölle gewesen sein. Mit 19 gelang es Kinski, sich vom Vater loszusagen. Als sie sich ihrer Mutter anvertraute, sagte die: „Ich habe es mir ja schon immer gedacht.“ Danach litt sie Todesängste. „Ich quälte mich durch den Tag in der Gewissheit, jede Sekunde zu sterben.“

„So etwas Tolles hatte ich noch nie erlebt“

Derart traumatisiert stürzt sich die junge Frau in ihre Arbeit. Die Münchner Otto-Falckenberg-Schule gab der Schauspielstudentin eine zweite Chance, obwohl Pola Kinski die Ausbildung mit 17 schon einmal hingeworfen hatte. „Die neue Ernsthaftigkeit meines Blickes hat sie beeindruckt. Darin sah man vielleicht, dass ich das regelmäßige Erscheinen und das Rollenspiel unbedingt wollte, um mich seelisch am Leben zu erhalten.“ Später arbeitet Pola Kinski unter anderen mit Peter Zadek, dreht einen Kinofilm mit Mel Ferrer, Claus Peymann will sie nach Stuttgart holen.

Es sind meist Frauen mit einem dunklen Geheimnis, die Pola Kinski spielen muss. Rollen, die der emotional verkrüppelten Frau zu schaffen machen. Und seitdem sie einen Jurastudenten kennengelernt hat, ihren heutigen Ehemann, gewinnt neben dem Beruf eine andere Komponente zunehmend die Oberhand: Liebe. Als sie weit weg dreht, lässt er sich krankschreiben, um ihr nachzureisen. „Er war liebeskrank. So etwas Tolles hatte ich noch nie erlebt“, erzählt sie, „und plötzlich wollte ich nur noch die Liebe und Zuwendung von diesem Menschen.“ Sie lehnt Projekte ab, bei denen ihr Freund sie nicht begleiten kann – eine Herzensentscheidung, die zum Karrierekiller wird.

Der Familienalltag ist bis heute manchmal „ein Kampf“

Doch die Innigkeit, mit der Pola Kinski heute noch den Namen ihres Mannes ausspricht, zeigt, er mag sie die Karriere gekostet haben, dafür hat er ihr aber vielleicht das Leben gerettet. Dennoch deutet sie an, dass man sich ihr Familienleben nicht allzu romantisch vorstellen darf. Der Alltag mit einer traumatisierten Frau, gesteht sie, sei manchmal „ein Kampf“. Und mit ihrem ausgeprägten Misstrauen habe sie als Mutter ihren Kindern bestimmt manchmal ein bisschen viel Angst gemacht.

Die Ängste hat Kinski durch eine Therapie in den Griff bekommen. „Mir war nicht klar, dass ich diese Ängste als Folge der Vergewaltigung produziere. Ich dachte, diese Zustände seien so eine Art Strafe Gottes.“ Denn bis heute kämpft sie mit Schuldgefühlen. „Ich musste erst lernen, mir nicht immer die Frage zu stellen, warum ich den Missbrauch zugelassen habe.“ Heute weiß sie, dass ihr Vater damals ihre emotionale Einsamkeit ausgenutzt hat, um sie psychisch von sich abhängig zu machen. Und trotzdem mache ihr „diese Hörigkeit“, die sie, wie viele andere Opfer sexuellen Missbrauchs, gegenüber ihrem Peiniger an den Tag gelegt hat, noch immer zu schaffen. Bis heute vermeidet sie alles, was ihr die Kontrolle über sich nimmt. Die Zähne etwa hat sie sich ohne Betäubung abschleifen lassen, und auch bei kleineren Operationen verweigert sie die Narkose: „Bei den Vergewaltigungen habe ich gelernt, mich so taub machen, dass ich nichts spüre.“

„Einmal im Leben wollte ich keine Rücksicht mehr nehmen“

Die Veröffentlichung ihrer Geschichte ist für Pola Kinski ein weiterer wichtiger Schritt im Umgang mit ihrer Vergangenheit: „Einmal im Leben wollte ich keine Rücksicht mehr auf andere nehmen – nicht auf meine Mutter, nicht auf meinen Vater – sondern alles so darstellen, wie es wirklich war.“ Mit dem Gedanken, ein Buch zu schreiben, hat sie sich zwanzig Jahre lang getragen. Erst jetzt habe sie es geschafft, diesem Bedürfnis nachzugeben. „Vorher habe ich alle Kraft gebraucht, um seelisch durch den Tag zu kommen und für meine Familie da zu sein.“ Die Biografie hat alte Wunden neu aufgerissen. Etwa die Enttäuschung über die Mutter, die öffentlich behauptet, von all dem nichts gewusst zu haben. „Sie macht mir Vorwürfe, hat mir aber nicht ein einziges Mal gesagt, dass ich ihr leidtue“, sagt Kinski. Allerdings hat „Kindermund“ ihr auch Befreiung verschafft. „Jetzt ist klar, was mein Vater getan hat. Ich muss mich nun nicht mehr winden, wenn ich auf ihn angesprochen werde.“

Niemand wird nun mehr ihre Augen mit denen des „großen“ Klaus Kinski vergleichen. Es sind große Augen, die oft sanftmütig, manchmal kindlich blicken und die sich mit Tränen füllen, wenn sie ausspricht, was ihr trotz des beharrlichen Weitermachens noch immer nicht so recht gelingen will: „Ich hoffe immer noch, dass ich eines Tages unbeschwert leben kann. Das Positive in meinem Leben anzunehmen und mich fallen zu lassen, das ist mir nur in wenigen Momenten meines Lebens gelungen.“