Pola Kinskis Buch „Kindermund“ hat einen Skandal ausgelöst, weil sie darin erzählt, wie ihr Vater Klaus Kinski sie als Kind missbraucht hat. Vor allem aber erzählt das Buch von der Wahrheit hinter seinen Inszenierungen, meint Julia Schröder.

Stuttgart - Sich etwas von der Seele schreiben – ein Autor kann seinem Buch kaum eine größere Hypothek mitgeben. Kann dabei denn etwas anderes als (Auto-) Therapie herauskommen, schlimmstenfalls Futter für Voyeure, im zweitschlimmsten Fall eine Vorlage, an der Kritiker vorführen können, was „keine Literatur“ ist? Wer Pola Kinskis „Kindermund“ liest, müsste sich diese Frage früher oder später stellen. Schließlich hat kaum eine der knapp 300 Seiten nicht mit dem Trauma zu tun, das die Verfasserin, wie ihre Interviews der letzten Tage zeigen, noch lang nicht überwunden hat: dem jahrelangen Missbrauch durch den eigenen Vater.

 

Tatsächlich ist „Kindermund“ unübersehbar gezeichnet von Schmerz, Angst und Zorn. Pola Kinski hat, wie sie im am Sonntag erschienenen Interview mit der „Welt am Sonntag“ sagt, kein Buch geplant, sondern „irgendwann“ zu schreiben angefangen, „wenn mich wieder diese Ängste überkamen und diese gewaltige Wut. Es waren erst nur Fetzen, ich hatte Kladden voller Notizen, Gedanken, Erlebnisse.“ Sie hatte nicht vor, daraus Literatur zu machen. Ihr Plan war aber auch nicht, den posthum weiterwachsenden Ruhm des 1991 verstorbenen Schauspielberserkers Klaus Kinski anzukratzen. Was sie wollte: von dem Kind erzählen, das sie war, von seinem Kampf, seinen Wunden, seiner Einsamkeit.

Das Opfer fühlt sich schuldig

Das hat sie getan, und das ist es, was die Frage, ob ein solches Buch, noch dazu im Insel Verlag – dem Verlag Rilkes, worauf Willi Winkler in der „Süddeutschen Zeitung“ eigens hinwies – erlaubt sei und gelingen könne, in den Bereich des weniger Wichtigen verweist. „Der Schatten beugt sich über mich, ich will schreien, der Schatten legt seine Hand auf mein Gesicht. Es ist mein Vater. ,Bitte nicht! Das nächste Mal, ich verspreche es, das nächste Mal bestimmt!’, wimmere ich. Jede Nacht, wenn alle schlafen, kriecht er zu mir unter die Decke. Ich zittere vor Angst, ich ekle mich vor ihm, noch mehr vor mir selbst. Ich will sterben. Ist er aus meinem Zimmer verschwunden, renne ich ins Bad, umklammere die Kloschüssel und kotze, kotze, bis nicht mal mehr Galle kommt. (. . .) Dann schrubbe ich mich mit einer Bürste von oben bis unten, immer wieder. Ich knie in der Wanne, flehe mit zum Himmel gefalteten Händen, dass Gott mir verzeihen möge.“

Zu diesem Zeitpunkt ist Pola schon ein Teenager, seit Jahren wird sie missbraucht, ihr Vater macht damit einfach weiter, er ist zum zweiten Mal verheiratet, ihre Halbschwester Nastassja schon auf der Welt. Ihre Mutter hat ebenfalls eine neue Familie gegründet und bringt, das wird überdeutlich, nicht mehr viel Liebe auf für das zunehmend renitente Mädchen. Pola Kinski erzählt davon in kurzen Szenen, oft lapidar. Manchmal kann sie nicht darauf verzichten, ihre nachträgliche Deutung des Geschehenen hinzu zu fügen.

Nastassja Kinski stärkt ihrer Halbschwester den Rücken

Der „seelische Missbrauch“ wie Pola Kinski es im Interview nennt, hat im Buch viele Facetten: das Hin- und Hergerissensein zwischen den beengten Verhältnissen mit Mutter und Stiefvater in München und dem mondänen, rastlosen Jetset-Leben mit dem Vater, zwischen bürgerlicher Herzenskälte und hysterischer Exzentrik. In München wird sie von der Mutter zwar an Bühne, Film und Fernsehen als Kinderdarstellerin vermittelt (das Honorar bekommt sie nie zu sehen), muss aber am Ausziehtisch überm Mülleimer ihre Mahlzeiten einnehmen. In Rom, Berlin, Madrid überschüttet der Vater sein „Püppchen“, sein „Engelchen“ mit unerwünschten Liebkosungen, teuren Schuhen , immer zu knapp geschnittenen Kleidern, mit viel Geld und kontrolliert sie zugleich bis in die Unterwäsche. Und was für sie das Grauen ist, das sie nur durch innere Abspaltung („ich mache mich tot“) erträgt, nennt er „das Schönste“, das sie aber „diesen Spießern“ niemals verraten darf.

Das Sprechverbot hat lange gewirkt. Al s sie neunzehn ist, verlässt Pola nach einer Vergewaltigung, für die sie selbst die Kondome kaufen musste, während der Vater („Mein Gesicht kennt jeder in Italien“) und seine dritte Ehefrau im Sportwagen warteten, das Haus in Rom Hals über Kopf, schlägt sich nach Bayern durch, bricht zusammen und offenbart sich der Mutter. Diese daraufhin: „Ich hab es mir ja schon immer gedacht.“ Damit beendet die junge Frau, was begann, als sie fünf Jahre alt war.

Aus dem Schneider ist sie damit nicht. Ihr Theaterspiel an großen Bühnen überfordert ihre emotionale Stabilität, ihre Sexualität ist wahllos, ihr Leben chaotisch. Mit Mann und eigenen Kindern, dies deutet nicht nur die Widmung des Buchs an, beginnt die Heilung. Als weitere zwanzig Jahre vergangen sind und die Mutter ihr mitteilt, der Vater sei tot, kann sie sich auf den Weg machen, „meine Seele zu suchen“.

Was Nastassja Kinski erspart blieb

Das ist eine beschädigte Biografie. Aus so etwas wird keine makellose Prosa. Dennoch wird es vielen gehen wie Polas Schwester Nastassja Kinski. Die in Los Angeles lebende Schauspielerin hatte in der „Bild“-Zeitung geschrieben, sie habe das Buch gelesen und „lange geweint“. Was sie dann am Wochenende in der „Bild am Sonntag“ nachlegte, verdeutlicht, dass Polas Bekenntnisse im Kreis der Familie keine allzu große Überraschung hervorgerufen haben dürften: „Er hat es versucht. Er hat mich immer viel zu sehr angefasst, mich ganz eng an sich gedrückt, so dass ich dachte, ich könnte nicht herauskommen. Damals war ich vier oder fünf Jahre alt.“

Dass es jetzt noch einmal zwei Jahrzehnte gedauert hat, bis Pola Kinski mit all dem an die Öffentlichkeit gehen konnte, wird ihr von manchem Kinski-Fan zum Vorwurf gemacht. Als Objekt von Verunglimpfung immerhin tritt das Opfer aus dem langen Schatten des Täters. Man kann das für Ironie der Geschichte halten. Der Titel „Kindermund“ stellt sich – absichtsvoll oder nicht – in mehrerlei Hinsicht quer gegen den von Klaus Kinskis Lebensbeichte „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“. Verglichen mit dem Geprotze dieser geliehenen Provokationen der siebziger Jahre hat das Buch seiner Tochter einiges für sich. Poetische Wahrheit vor allem.

Pola Kinski: Kindermund. Insel Verlag, Frankfurt/Main. 267 Seiten, 19,95 Euro.