Bei der Biogasforschung ist Stuttgart führend, bei der Solarenergie tut langsam etwas. Doch ohne Atomstrom geht in der Stadt wenig.    

Stuttgart  - Welche Bilder einem als Erstes in den Sinn kommen, wenn das Wort "Bauernhof" fällt? Hemdsärmlige Männer waten mit ihren Gummistiefeln durch den Mist. Ferkel grunzen, Traktoren knattern, möglicherweise denkt man auch an Legehennen, an Massentierhaltung und Tierseuchen. An Rinderwahn oder an die RTL-Schmachtseifenoper "Bauer sucht Frau".

 

Keines dieser Bilder findet sich in Eningen wieder, wo auf einem ausrangierten Hof ein Modell für den Bauernhof der Zukunft steht. Hier forscht die Universität Hohenheim seit Juli 2008 in einer der modernsten Biogasanlagen Europas. Hans-Joachim Nägele gehört zum Team der Wissenschaftler, er trägt keine Gummistiefel, sondern schwarze Businessschuhe und ein Sakko.

So ähnlich wie er könnten künftig einige Bauern im Land aussehen - Biogasanlagen stinken kaum. Mist heißt hier "Rohmaterial". Aus Kuhmist, aber auch aus Mais oder Früchten wird durch chemische Prozesse Biogas gewonnen. Aus Landwirten werden Energiewirte. Nägele zerreibt Silage in den Händen. Sie riecht süßlich.

Anteil des Atomstroms liegt bei 50 Prozent

Nach der Katastrophe in Fukushima scheint das Ende des Atomzeitalters in Deutschland näher zu rücken. Politiker und Bürger träumen von einer sauberen und sicheren Zukunft, in der die erneuerbaren Energien eine Schlüsselrolle spielen. Doch die Gegenwart sieht anders aus: Nur 16 Prozent des Stromverbrauchs wird von Windrotoren, Wasserkraftwerken oder Solarzellen abgedeckt. Das Biogas - die Energie vom Feld - deckt derzeit 2,6 Prozent des Gesamtbedarfs. Die Mist-Revolution reicht nicht aus, um einen Großteil des Energiehungers zu stillen.

Wenn in Stuttgart das Licht angeht, die Kaffeemaschine zu blubbern beginnt und dann am Arbeitsplatz der Computer hochfährt, kommt die dafür benötigte Energie vor allem aus Kernkraftwerken. Bei der Energie Baden-Württemberg (EnBW) liegt der Anteil des Atomstroms konzernweit bei rund 50 Prozent. Doch der Energieriese reagiert auf die wachsende Skepsis vieler Kunden. Kürzlich schickte er seinen Kunden in Stuttgart einen Hochglanzprospekt, mit dem er für Bioerdgas wirbt. Der Slogan lautet: "Gas frisch vom Feld ernten", der Konzern betont unter anderem die "hervorragenden CO2-Bilanz" des Produkts.

Die Nachfrage nach dem Bioerdgas sei erfreulich, sagt der EnBW-Pressesprecher Hans-Jörg Groscurth, der jedoch keine konkreten Zahlen nennen will. Vielleicht auch deshalb, weil der Konzern darin "kein Massengeschäft" sieht, da es "an ökonomische und ökologische Grenzen stößt". Die EnBW ist noch immer der größte Energielieferant in Stuttgart, obwohl jeder Verbraucher seit der Liberalisierung des Strommarkts im Jahr 1998 die freie Wahl hat - und viele Ökostromanbieter mit einem grünen Profil für sich werben.

Bei der Biogasforschung schaut die Welt nach Stuttgart

Die EnBW besitzt in der Landeshauptstadt einen geschätzten Marktanteil von rund 80 Prozent und versorgt eine "mittlere sechsstellige Zahl" an Haushalten. Die Kraftwerke des Unternehmens haben im Jahr 2010 nur zu 10,5 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien gewonnen. Laut Groscurth will der Konzern diesen Anteil "in den nächsten Jahren verdoppeln". Die EnBW investiert rund drei Milliarden Euro - ein Großteil der Summe fließt in den Ausbau des Wasserkraftwerks in Rheinfelden und in vier Offshore-Windparks in der Ost- und in der Nordsee.

Die weltweite Suche nach den sauberen Energielieferanten der Zukunft hat längst begonnen. Das Ende der fossilen Energieträger Kohle, Gas und Erdöl ist absehbar - der Zweifel an der Atomkraft nach den Ereignissen in Japan derzeit so groß wie nie. Nach dem Super-GAU spüren viele Stromanbieter auch bei ihren Stuttgarter Kunden ein gestiegenes Interesse an Ökostrom.Immerhin: bei der Biogasforschung will die Welt von Stuttgart lernen.

Stuttgart setzt ein Ausrufezeichen

Digitalkameras richten sich auf Hans-Joachim Nägele, der über das Gelände des einstigen Bauernhofs in Eningen läuft. Es ist ein warmer Frühlingstag, und die internationale Forschungselite ist zu einer Fachtagung an die Universität Hohenheim gekommen. Wissenschaftler aus China, Malaysia und aus vielen europäischen Ländern stellen Nägele eine Frage nach der anderen. Wie genau funktionieren die Messungen in dem großen Tank, in dem Mist, Mais und andere Stoffe Biogas erzeugen? Wie viel Strom kann aus einer solchen Anlage gewonnen werden? Und wie viele Biogasanlagen gibt es eigentlich?

Stuttgart ist in den Startblöcken stehen geblieben

In Baden-Württemberg haben Ende 2010 laut dem Landwirtschaftsministerium 700 Biogasanlagen Strom in die Netze eingespeist. In Deutschland liefern rund 6000 Anlagen Strom. Beide Zahlen sind in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen - alle Anlagen erzeugen insgesamt 2,3 Gigawatt. Dies entspricht der Leistung von zwei größeren Atomkraftwerken.

Biogas hat in den vergangenen Jahren einen Boom erlebt - allerdings von einem geringen Ausgangsniveau. In Hohenheim leitet Hans Oechsner die Landesanstalt für Agrartechnik und Biotechnologie. Der 52-Jährige glaubt daran, dass sich der Anteil von Biogas verdoppeln lässt. "Aber wir werden in Zukunft ein Nebeneinander von verschiedenen regenerativen Energieträgern brauchen. Also unter anderem von Sonne, Wind, Wasser und Biomasse."

Die Mischung soll es machen. Doch Stuttgart ist bei manchen erneuerbaren Energien lange in den Startblöcken stehen geblieben, während andere Städte längst entschlossen losgelaufen waren. Dies gilt vor allem für die Solarenergie - die Stadt hat die Sonnenkraft jahrelang nur zögerlich genutzt. Erst vor rund einem Jahr hat der Gemeinderat beschlossen, neue Fotovoltaikanlagen besser zu fördern.

Stuttgart will nur noch Ökostrom beziehen

Ein Vorzeigeprojekt der Stadt befindet sich in Zuffenhausen: Auf dem Dach der Ernst-Abbe-Schule ist auf einer Fläche von 560 Quadratmetern eine Fotovoltaikanlage installiert worden. Bei ihrer Einweihung sprach der Städtebau- und Umweltbürgermeister Matthias Hahn( SPD) von einem großen Fortschritt. Tatsächlich deckt die Anlage jedoch nur einen kleinen Teil des Strombedarfs jener Schule ab, auf deren Dach sie steht.

Weil die Fotovoltaikanlagen inzwischen deutlich günstiger geworden sind, engagieren sich auch immer mehr private Initiativen wie beispielsweise die Genossenschaft Bürgerenergie Stuttgart (BES), die ebenfalls Anlagen auf Schuldächern betreibt. Die Stadt Stuttgart selbst setzt als Großkundin auf dem Energiemarkt ein Ausrufezeichen: Sie will vom nächsten Jahr an nur noch Ökostrom beziehen. Der Energiebedarf der Stadt wird dann durch Wasserkraftwerke in Norwegen gedeckt.

Was jeder selbst tun kann

Die Chancen

Infrastruktur

Über das Höfesterben und die schlechten Erträge für Bauern wird seit langem geklagt. Biogasanlagen schaffen neue wirtschaftliche Perspektiven - und ermöglichen, dass manche Landstriche nicht noch stärker veröden.

Wirtschaft

Studien sehen bei den erneuerbaren Energien Boombranchen der Zukunft. In der Region Stuttgart trifft Spitzenforschung auf innovative mittelständische Unternehmen. Sie könnte sich bei einem Strukturwandel erneut an die Spitze stellen und Arbeitsplätze gewinnen.

Unabhängigkeit

Atomkraftwerke liefern den Stuttgarter Verbrauchern einen Großteil der Energie. Wer sie zum Auslaufmodell erklärt, braucht erneuerbare Energien.

Die Probleme

Konkurrenz

Kritiker wenden ein, dass für die Produktion von Biogasenergie große Ackerflächen benötigt werden - diese stehen nicht für den Anbau von Lebensmitteln zur Verfügung.

Monokultur

Biogasanlagen verwenden oft Mais, weil die Pflanze den höchsten Energieertrag bringt. Die Folge: Monokulturen prägen auch im Südwesten ganze Landstriche.

Preise

Noch immer ist grüner Strom teurer als jener aus Kernkraftwerken. Doch beim Atomstrom werden Kosten für Entsorgung und Endlagerung nicht fair in die Preise eingerechnet.

Tempo

Deutschland will beim Ausstieg aus der Atomkraft vorangehen. Ein Alleingang bringt jedoch wenig, solange Nachbarstaaten wie Frankreich nicht mitziehen.

Was jeder selbst tun kann

Vergleichen

Wie hoch ist der Anteil von Wasser, Wind und Sonne eigentlich bei Ihrem Stromanbieter? Wer nicht nur auf die Preise, sondern auch auf die Umweltverträglichkeit schaut, findet im Internet zahlreiche Vergleichstabellen. Unter anderem auf www.oekostrom-vergleich.com

Einsparen

Allein durch den Austausch von alten Glühbirnen können Verbraucher bis zu 80Prozent des Stroms für Licht sparen. Bei neuen Elektrogeräten lohnt es sich, auf die Energieeffizienz zu achten. Wer Geräte auf Stand-by stellt, verschwendet unnötig Energie. Mehr Infos: www.energieeffizienz.de

Umrüsten

Alte Heizungspumpen gelten als Stromfresser, ein neues Gerät rechnet sich oft innerhalb von wenigen Jahren. Solarmodule für das Hausdach sind günstig geworden.