Eine giftige Substanz aus Kieselalgen bedroht Menschen wie auch Seelöwen. Während Menschen Muscheln zur Zeit der Algenblüte meiden können, müssen die Meeressäuger fressen. Das Gift verändert ihr Gehirn – und sie werden vergesslich.

Stuttgart - Plötzlich bekommt man keine Luft mehr, im Kopf hämmert es, und das Gedächtnis funktioniert auch nicht mehr so richtig. Nach einer Muschelmahlzeit deuten diese Symptome auf eine Vergiftung mit Domoinsäure hin. Wenn im sommerlichen Meer Kieselalgen blühen, geben die Winzlinge diese Substanz massenhaft ins Wasser. Filtrieren Muscheln dann ihre Nahrung aus dem Ozean, nehmen sie die Domoinsäure mit auf. Landen solche Meeresfrüchte auf unserem Teller, verspeisen wir das Biomolekül gleich mit.

 

Domoinsäure ähnelt der Glutaminsäure, die bei Säugetieren einer der wichtigsten Botenstoffe im Gehirn ist. Prompt verwechselt der Organismus beide Substanzen, und das aus den Kieselalgen stammende Molekül wirkt als Nervengift, das unter anderem das Gedächtnis erheblich beeinträchtigt – und das nicht nur beim Menschen, sondern mit fatalen Folgen auch beim Kalifornischen Seelöwen, zeigen Peter Cook von der Emory University im US-amerikanischen Atlanta und seine Kollegen in der Fachzeitschrift „Science“.

In den vergangenen Jahren haben die Forscher 30 Seelöwen unter die Lupe genommen, die mit einer Domoinsäure-Vergiftung geschwächt an den Pazifikstränden Kaliforniens landeten und in Rehabilitationszentren von Tierärzten wieder aufgepäppelt wurden. Die normalerweise eleganten und schnellen Schwimmer hatten das Nervengift offensichtlich mit Fischen und Tintenfischen aufgenommen, in denen sich die Domoinsäure aus Kieselalgen ebenfalls anreichert. Als die Forscher das Gehirn von elf der betroffenen Tiere mit einer Magnetresonanzspektroskopie (MRS) genannten Methode durchleuchteten, fanden sie bei fünf Seelöwen unter anderem im hinteren rechten Bereich des Hippocampus viele Stellen, an denen die Nervenverbindungen nicht richtig funktionierten. In diesem Teil des Gehirns läuft auch die Erinnerung an Orte ab. Könnte demnach das Orientierungsvermögen der betroffenen Meeressäuger in Mitleidenschaft gezogen worden sein?

Wo war nochmal meine Beute?

Diesen Verdacht bestätigten die Forscher mit einem Verhaltensexperiment, bei dem jeden Tag an vier bestimmten Stellen im Schwimmbecken der Seelöwen Behälter installiert wurden. Nur einer davon enthielt einen leckeren Fisch, in dem natürlich kein Nervengift steckte. Die Tiere, deren rechter Hippocampus-Teil eine normale Größe hatte, merkten sich den täglich an der gleichen Stelle auftauchenden Behälter mit der Mahlzeit gut und verschlangen ihre verdiente Belohnung. Viel schlechter schnitten dagegen die Seelöwen ab, deren rechter Hippocampus-Teil geschrumpft war. Offensichtlich erinnerten sie sich kaum noch an den Ort, an dem sie an den Vortagen etwas zu fressen gefunden hatten.

In Rehabilitationszentrum werden die Tiere gefüttert, aber im Meer kann ein solches Handicap tödlich enden. Schließlich sind die Jäger dort auf ihr gutes Gedächtnis angewiesen, das ihnen die Gegenden verrät, in denen sie schon öfter viele Fische gefangen haben. Versagt das Gedächtnis, droht den Seelöwen der Hungertod.

Das aber könnte die gesamte Art gefährden, befürchten Peter Cook und seine Kollegen. Schließlich wurden mit den Abwässern und von den Feldern in den vergangenen Jahrzehnten viele Nährstoffe in die Meere geschwemmt, die dort zunehmend häufiger Algenblüten auslösen. So wird auch mehr Domoinsäure produziert. Menschen können diesem Nervengift ausweichen, wenn sie im Sommer und damit in der Zeit mit den häufigsten und größten Algenblüten auf Muscheln verzichten. Kalifornische Seelöwen aber müssen in allen Jahreszeiten fressen und können so der Gefahr kaum ausweichen. Peter Cook und seine Kollegen befürchten, dass viele weitere Arten von diesem Nervengift aus Fischen und Meeresfrüchten bedroht sein könnten: Viele Seevögel, aber auch andere Robben-Arten und Wale ernähren sich ebenfalls direkt aus dem Meer, bei ihnen wirkt Domoinsäure vermutlich ähnlich. In Verhaltensexperimenten aber lassen sich diese Tiere kaum untersuchen.