Am Sonntagabend steht der Bonatz-Bau bei der Demo des Aktionsbündnisses wieder im Blickpunkt. Vorab ein wenig Bahnhofsdialektik.

Stuttgart - Wer in Stuttgart einem klugen Gedanken von Georg Wilhelm Friedrich Hegel begegnen will, findet ihn am leichtesten an der Bushaltestelle. Im Dämmerlicht des späten Nachmittags warten Dutzende von Pendlern am Arnulf-Klett-Platz, jeder von ihnen versunken in seiner eigenen Gedankenwelt. Auf der anderen Straßenseite leuchtet ein Halbsatz des Philosophen auf der Frontseite des Hauptbahnhofs: "daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist".

 

Noch bis Sonntagabend darf der Bahnhof ein gewöhnlicher Bahnhof sein, dann verwandelt er sich bei der Demo des Aktionsbündnisses in einen Ort, an dem über Ängste und Hoffnungen gesprochen wird. Nicht über die Abfahrtszeiten von Zügen.

Frucht des Zweifels verkümmert

Schon gar nicht über Hegel. Das ist auch verständlich - schließlich fürchtete bei der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 auf beiden Seiten kaum jemand, dass er womöglich in seiner Meinung irren könnte. Die Frucht des Zweifels ist im Laufe des langjährigen Streits beim Großteil der Befürworter und Gegner immer mehr verkümmert. Der Baum der wahren Erkenntnis steht im eigenen Vorgarten.

Nur der Weihnachtsbaum steht wie immer in der großen Schalterhalle des Bonatz-Baus. Goldene Sterne, rote Schleifen, daneben eine Gruppe älterer Damen, die sich gegenseitig den Volksentscheid erklärt: "Willsch, dass der Bahnhof abgerissen wird?" Kopfschütteln. "Siehste, dann musst du mit Ja stimmen!"

Der Verstand plädiert für den Tiefbahnhof

Hegel, 1770 in Stuttgart geboren, hätte an der Dialektik des Volksentscheids 2011 seine Freude gehabt. Komplizierter als die Politiker und Juristen von heute hätte er selbst die Frage für die Volksabstimmung am Sonntag auch nicht formulieren können. Grob vereinfacht gesagt: wer für Stuttgart21 ist, stimmt mit "Nein". Die Gegner kreuzen "Ja" an.

Nichts ist, wie es vordergründig zu sein scheint. Aber es geht noch verschachtelter, wenn man das Gedankengebäude des Philosophen betritt. Ein Schnellkurs in Bahnhofsdialektik: der Verstand plädiert für den Tiefbahnhof. Die kritische Vernunft pocht auf den Kopfbahnhof. Und die positive Vernunft fügt die Gegensätze zum Kombibahnhof. Aber auf Heiner Geißler wollte am Ende ja keiner mehr hören. Also wird es nichts in Stuttgart, mit Hegel 21.

Dafür sind die Dinge im Fluss. Und langsam sickert in den Bahnhof sichtbar ein wenig von jener Zukunft ein, die für die einen Verheißung ist und für die anderen Verdammnis. Eine Leuchtreklame fordert die Passanten auf, Wohnungen oder Büros in den Pariser Höfen zu erwerben, die gerade im Europaviertel entstehen. Und dort, wo einst der Nordflügel des Bonatz-Baus stand, wirbt ein Riesenplakat für den "Neuen Stuttgarter Hauptbahnhof". Der wird mit Adjektiven dekoriert: "schneller, komfortabler, zukunftsorientiert". Wie auch immer die Abstimmung am Sonntag ausgeht: vor den Folgen werden sich viele fürchten. Irrtum ausgeschlossen.