In Deutschland sind keine Meiler mehr am Netz. In Brüssel arbeiteten Staats- und Regierungschefs hingegen an der atomaren Renaissance. Die Klimakrise und der Ukrainekrieg dienten dabei als Argumente.

Brüssel - Bei der Frage zur Zukunft der Kernkraft geht ein Riss durch Europa. Während in Deutschland im April 2023 der einst von CDU und CSU (mit)beschlossene Atomausstieg mit leichter Verzögerung umgesetzt wurde, gehen andere Staaten in der Europäischen Union und in anderen Regionen einen anderen Weg. Beim ersten internationalen Atomenergie-Gipfel kündigten rund 30 Staaten am Donnerstag in Brüssel einen schnelleren Ausbau von Nuklearstrom an und argumentierten dabei unter anderem, dass nur so CO₂-Emissionen im Kampf gegen die Klimakrise ausreichend gesenkt werden könnten. Wichtige Fragen und Antworten zu dieser Konferenz:

 

Was ist das Resultat dieses Gipfeltreffens?

In ihrer gemeinsamen Erklärung sprachen sich die teilnehmenden Staaten nicht nur für den Bau neuer AKW aus, sondern auch für die Verlängerung der Lebenszeit von bestehenden Anlagen, sowie für den Einsatz neuartiger Reaktortypen. "Wir verpflichten uns dazu, das Potenzial der Nuklearenergie voll auszuschöpfen", hieß es. Die Staats- und Regierungschefs forderten von internationalen Finanzinstitutionen wie der Weltbank, Atomprojekte verstärkt zu unterstützen. Teilnehmer betonten nicht nur, dass Atomenergie bei der Vermeidung von CO₂ eine wichtige Rolle spielen sollte. Sie argumentierten auch, dass AKW in Krisenzeiten für Unabhängigkeit von ausländischen Energiequellen sorgen. "Ein wichtiger Auslöser für das Comeback der Nuklearenergie war Putins Invasion in die Ukraine", sagte Fatih Birol, Chef der Internationalen Energieagentur (IEA), in Brüssel.

Wer unterstützt diese Initiative der Atombefürworter?

Deutschland saß nicht mit am Tisch der Konferenz, die von Belgien und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) organisiert wurde. Anwesend waren neben dem belgischen Premierminister Alexander De Croo unter anderem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Mark Rutte aus den Niederlanden, Donald Tusk aus Polen und aus Ungarn Viktor Orban. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie EU-Ratspräsident Charles Michel nahmen teil sowie hochrangige Vertreter aus den USA, China, Indien oder Japan. 

Wie wird das Gipfeltreffen in Deutschland eingeschätzt?

Das Bundesumweltministerium gibt sich betont gelassen: "Dass es unter den EU-Mitgliedstaaten bezüglich der Atomkraftnutzung unterschiedliche Sichtweisen gibt, ist bekannt und wird gegenseitig respektiert", sagte ein Sprecher. Deutschland habe mit seinem Ausstieg den Kreis der atomkritischen EU-Mitgliedstaaten gestärkt. Im nationalen wie im internationalen Diskurs zur Zukunft der Atomkraft zeige sich, dass wirtschaftliche und sicherheitstechnische Fragen "unterbelichtet" seien, sagte der Chef des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), Christian Kühn, am Donnerstag. Eine Studie im Auftrag des Bundesamtes kommt zum Schluss, dass neuartige Atomreaktoren der vierten Generation noch auf Jahrzehnte nicht marktreif nutzbar sein werden. 

Wie wird in Europa die Kernkraft genutzt?

Aktuell werden in 12 der 27 Mitgliedstaaten Atommeiler betrieben, in der Slowakei und in Frankreich befinden sich gar zwei neue Kernkraftwerke in Bau. Als Reaktion auf die geänderten Rahmenbedingungen infolge des Ukrainekriegs hat Belgien den beschlossenen Ausstieg auf 2035 verschoben, Spanien hält am Ausstieg fest. Die mit Abstand meisten Meiler gibt es in Frankreich. Auch Polen beabsichtigt ein Kernenergieprogramm neu zu starten, Tschechien plant ebenfalls den Neubau von Meilern.

Warum hat Frankreich in Europa eine Sonderrolle?

56 der 100 Atomkraftwerke in Europa sind in Frankreich. Grundsätzlich wird der Bau von 14 oder mehr neuer Anlagen in Erwägung gezogen. Außerdem soll die Laufzeit bestehender Kraftwerke verlängert werden, wenn die Sicherheit dies zulässt. Jedoch zeigt sich auch, wie schwierig der Neubau ist: Mitte 2024 soll in Flamanville in der Normandie ein neuer Meiler ans Netz gehen - mehr als 16 Jahre nach Baubeginn und mit geschätzten Kosten von 13,2 Milliarden Euro viermal so teuer wie vorgesehen. Als Atommacht setzt Frankreich aber auch aus anderen Gründen auf Kernkraft: Frankreichs Verteidigungsministerium hat angekündigt, im AKW Civaux Material, das Lithium enthält, anreichern zu wollen. Daraus soll das Gas Tritium für Abschreckungswaffen gewonnen werden.

Wie ist die Lage weltweit?

Derzeit sind laut IAEA weltweit 415 Atomreaktoren in Betrieb. Die USA sind nach Angaben der Lobbyorganisation WNA der weltweit größte Produzent von Kernenergie, gefolgt von China und Frankreich. In der amerikanischen Bevölkerung ist die Unterstützung für Atomstrom gewachsen, wohl auch wegen steigender Öl- und Gaspreise. Laut Umfragen spricht sich eine Mehrheit für die Nutzung von Kernenergie aus. Derzeit sind landesweit 94 Reaktoren im Einsatz. China und Indien treiben derzeit den Ausbau von Kernkraftwerken am aktivsten voran.

Wie ist die Situation in Deutschland?

Trotz des vollzogenen Atomausstiegs gibt es Rufe nach einem Wiedereinstieg. CDU und CSU machen sich dafür ebenso stark wie FDP und AfD. Dagegen betonen SPD und Grüne, dass die Atomkraft keine Zukunft hat und der Ausbau der erneuerbaren Energien auch aus Kostengründen vorangetrieben werden müsse. Kanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte im vergangenen Jahr, wer neue Atomkraftwerke fordere, verkenne die langen Bauzeiten sowie hohen Bau- und Stromkosten. "Der Atomausstieg macht unser Land sicherer, die Risiken der Atomkraft sind letztlich unbeherrschbar", betonte das Umweltministerium.

Welche Erwartungen verbinden die Befürworter mit der Atomkraft? 

Bei der Weltklimakonferenz Ende 2023 hatten rund 20 Staaten angekündigt, zum Wohle des Klimas die Energieerzeugung aus Atomkraft hochschrauben zu wollen. Bis zum Jahr 2050 sollten die Kapazitäten verdreifacht werden, hieß es in einer Erklärung, die unter anderem von Frankreich und den USA unterzeichnet wurde. Dafür müsste die aktuelle Kapazität von gut 370 Gigawatt um etwa 740 GW ausgebaut werden. Die IEA hat jedoch darauf hingewiesen, dass die Gesamtleistung aller im Bau befindlichen und geplanten Reaktoren dazu bei Weitem nicht ausreicht.

Warum ist Atomkraft umstritten?

Umweltorganisationen wie Greenpeace fordern, Regierungen sollten ihre Energieziele mithilfe erneuerbarer Energien erreichen. Greenpeace-Aktivisten machten am Konferenzort in Brüssel mit einer Abseil-Aktion auf sich aufmerksam. Umstritten sind AKW vor allem wegen der hohen Risiken, wie die Reaktorkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima gezeigt haben. Experten sagen zudem, dass ohne staatliche Subventionen die Kosten niemals wirtschaftlich seien. Da die Uranvorkommen auch endlich sind, erwarten Fachleute auch hier stark steigende Preise und wegen der langen Bauzeiten der Meiler sei die Technologie nicht geeignet, im Kampf gegen die Klimakrise etwas zu bewirken. Hinzu kommt die nicht gelöste Frage der Endlagerung des radioaktiven Abfalls.