Buchtipp: Arno Geiger, „Das glückliche Geheimnis“ Kopfüber im Müll

In ungeschützter Offenheit zieht Arno Geiger in seinem Roman privateste Dinge ans Licht. Foto: imago/Gerhard Leber

Arno Geiger enthüllt das seltsame Doppelleben, auf dem sein schriftstellerischer Erfolg ruht.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Offenbar übt Müll auf österreichische Autoren eine ganz besondere Anziehungskraft aus. Erst im letzten Jahr hat Wolf Haas den Kreislauf des Seins aus der Perspektive eines Wiener Wertstoffhofs betrachtet. Nun kann man Arno Geiger auf seinen Streifzügen durch die Stadt folgen, wie er in Altpapiercontainer abtaucht, dass nur noch die Beine oben herausschauen. Das ist nicht unbedingt die Weise, in der man einen der angesehensten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vor Augen hat.

 

Was ist passiert? Für seinen Familienroman „Es geht uns gut“ hat der in Wien lebende Vorarlberger 2005 den erstmals vergebenen Deutschen Buchpreis erhalten. Seitdem ging es steil bergauf. Warum wühlt so jemand im Dreck anderer Leute? Das ist das „glückliche Geheimnis“, das sein neues Buch lüftet. Man kann sich kaum einen gewissenhafteren – und vor dem Hintergrund redlich-skrupulöser Arbeit vielleicht auch kaum einen seiner selbstgewisseren – Autor vorstellen. Dass aus der akribisch ausgefeilten Vertrauenswürdigkeit seines Schreibens nichts Gedrechseltes oder Papiernes entsteht, sondern Texte, deren Pulsschlag auch dann deutlich zu spüren ist, wenn die Akteure schon längst gestorben sind oder nie gelebt haben, war zuletzt mit seinem Kriegsroman „Unter der Drachenwand“ zu erleben: Wie darin eine Wirklichkeit aufersteht von einer emotionalen Dichte und Unmittelbarkeit, als wäre man dabei gewesen.

Auferstehung könnte man als eine Form spiritueller Kreislaufverwertung betrachten. Genau darum geht es. 25 Jahre lang hat Arno Geiger in der österreichischen Hauptstadt die Behältnisse für das Ausgesonderte und Erledigte durchwühlt, anfangs, um manches dabei zutage Geförderte auf dem Flohmarkt zu verticken, später, um es in einem schöpferischen Recycling dem eigenen Werk zuzuführen. Bücher, Gedichtbände, kostbare Drucke, Briefkonvolute – erstaunlich, was hier alles landet. Und noch erstaunlicher, dass der gerade in erster Generation zum Akademiker Aufgerückte erst zum kopfüber in Abfalltonnen steckenden Müllsammler werden musste, um als Schriftsteller festen Boden unter den Füßen zu gewinnen.

Dem unablässigen Feilen am Wort steht das Faszinosum des Rauen, Ungehobelten und Realen gegenüber. „Meine künstlerische Entwicklung wurde nicht nur von Weltliteratur vorangetrieben, sondern ganz wesentlich auch von Abfall, von Hingeschmiertem und Verworfenem.“ Arno Geiger ist ein Visionär des Dokumentarischen. Und die frappierende, staunenswerte Einfühlung, mit der er sich immer wieder das Geschehen von kollektiven oder individuellen Amnesien abringt, verdankt sich jener im Verborgenen stets mitlaufenden privaten Quellenspur, die sich, wie man jetzt erfährt, im Dunkel kultureller Abraumhalden verliert. Sie nähren die wuchernden Blüten seiner Vorstellungskraft. Einzelne Sätze werden die „Räuberleiter zu einer Idee“, in der sich Ge- und Erfundenes zu einer eigenen Wahrheit ergänzen.

Frühmorgendlicher Stadtstreicher

Auch nach seinen Erfolgen ist er diesem seltsamen Doppelleben zwischen oben und unten treu geblieben. Was man nüchtern als das Betriebsgeheimnis von Geigers ungekünstelter Kunstfertigkeit betrachten könnte, führt geradewegs aus der geordneten Arbeitswelt zwischen Schreibtisch und Schreibkrise hinaus, in die wilde Welt eines frühmorgendlichen Stadtstreichers.

So wird, was der Stoff einer Poetikvorlesung sein könnte, selbst zu einem Stück Literatur. Es erzählt von der Last des Scheiterns, die sich ein junger, zum Schreiben entschlossener Mensch aufgeladen hat, von einer ungewissen Zukunft, vom Ringen mit dem Kalkulierten der Sprache und dem Zufall der Ereignisse. Jedes gefundene Konvolut raunt ihm zu: Du musst dein Leben ändern. In ungeschützter Offenheit zieht er nicht nur Gedrucktes aller Art aus der Tonne, sondern auch die eigenen privatesten Angelegenheiten ins Licht: Affären, Zerwürfnisse, Liebesturbulenzen, Rückschläge, Verfall, Krankheit und Tod.

Unauflöslich sind Werk- und Autobiografie in sich verschränkt. Darin beglaubigt sich der enge Zusammenhang zwischen Leben und Literatur. Denn diese Frage steht im Mittelpunkt des ganzen Sammelns und Suchens: Ist Kunst etwas für sich, ein Bereich, in dem man es zu etwas bringen oder scheitern kann? Oder ist sie etwas, in dem das Leben erst sichtbar und damit verständlich wird? Nur wer bereit ist, sich auszusetzen, und im Zweifel nicht davor zurückschreckt, ins Altpapier abzutauchen, entgeht dem Schicksal einer papiernen Existenz – so könnte man das lebensästhetische Credo zusammenfassen.

Dem eigenen Aufstieg entgegen läuft eine dem Müll abgelesene Abwärtsbewegung der Kultur: Druckerschwärze nimmt ab, Pizzakartons werden mehr, Liebesromane verdrängen Kriminalromane, der gesellschaftliche Wind wird rauer. „Das Erledigte verkörpert eine Epoche so gut wie das bedeutendste Kunstwerk.“ Umso besser, wenn beides zusammenkommt. Irgendwann findet er auch das Taschenbuchexemplar seines Durchbruchs „Es geht uns gut“. So schließt sich der Kreis. Doch es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn dieser wandlungsfähige Autor darin gefangen bliebe.

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis. Hanser-Verlag, 240 Seiten, 25 Euro.

Info

Autor
Arno Geiger, 1968 in Bregenz geboren, lebt in Wien und Wolfurt. Neben seinem Schriftstellerberuf arbeitete er lange als Videotechniker bei den Sommerfestspielen in Bregenz. Der Durchbruch gelang ihm mit dem Roman „Es geht uns gut“, der 2005 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Es folgten „Alles über Sally“, „Der alte König in seinem Exil“, „Selbstporträt mit Flusspferd“ und zuletzt „Unter der Drachenwand“. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet.

Termin
Am 26. Januar stellt Arno Geiger „Das glückliche Geheimnis“ im Literaturhaus Stuttgart vor.

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