Staatsrätin Gisela Erler sieht die Landesregierung bei der Bürgerbeteiligung auf dem richtigen Weg. Aber die Euphorie des Anfangs ist weg. Die Grünen-Politikerin zieht Bilanz.

Stuttgart - Mehr Bürgerbeteiligung und mehr direkte Demokratie: Die Teilhabe der Bürger an der Macht hat von Anfang an zu den zentralen Projekten der grün-roten Koalition in Baden-Württemberg gezählt. Schon nach einem halben Jahr des Regierens, im November 2011, kam es zur Volksabstimmung über Stuttgart 21. Sie endete für den einen Teil der Regierung, für die SPD, erfolgreich, für den den anderen aber, die Grünen, mit einer Niederlage. Und obgleich die Sozialdemokraten die Volksabstimmung initiiert und gegen mancherlei Widerstände bei den Grünen durchgesetzt hatten, profitierten am Ende die Grünen am meisten davon. Ministerpräsident Winfried Kretschmann räumte die Niederlage ohne alle interpretatorischen Verrenkungen ein, was dazu beitrug, das das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu vertiefen.

 

So sieht das jedenfalls Staatsrätin Gisela Erler, die Fachfrau für Bürgerbeteiligung im Kabinett. Die Volksabstimmung als „Mutter aller Schlachten“ habe letztlich die Glaubwürdigkeit von Grün-Rot gestärkt, sagt Erler. Schon damals aber fanden die rigiden Regeln für Volksabstimmungen im Land heftige Kritik. Nun macht sich Grün-Rot daran – nicht gerade überstürzt – in Abstimmung mit der Opposition die Verfassung zu ändern und das Zustimmungsquorum bei Volksabstimmungen abzusenken – von einem Drittel der Wahlberechtigten auf ein Fünftel. Das ist keine Revolution, aber Erler zeigt sich einigermaßen zufrieden. Zumal bei der direkten Demokratie das Innenministerium die Federführung hat, was den revolutionären Elan zusätzlich mindert.

Nicht alles taugt zur Volksabstimmung

Direktdemokratische Verfahren hält die Staatsrätin ohnehin nicht für die in jedem Fall richtige Antwort auf alle strittigen Fragen. Für Infrastrukturprojekte seien Volksabstimmungen und Bürgerentscheide sehr gut geeignet. Sie gestatten eine klar definierte Alternative: dafür oder dagegen. Gerade die immer als Vorbild hoch gehaltene Schweiz zeige jedoch, dass sich etwa gesellschaftspolitische Themen weniger eigneten. „Direkte Demokratie ist kein gutes Mittel, um gesellschaftliche Innovationen voranzubringen“, sagt Erler. Umso wichtiger sei es, Bürgerengagement von unten wachsen zu lassen.

Gisela Erler ist ja auch ausweislich ihrer Amtsbezeichnung Staatsrätin für Bürgerbeteiligung, nicht für direkte Demokratie. Die Bürger zu beteiligen aber heißt für Erler nicht, ihnen allein die Entscheidung zu überlassen, sondern ihren Sachverstand einzubeziehen und ihre Meinung einzuholen. Ein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit sei die Bürgerbeteiligung nicht. Für Infrastrukturvorhaben des Landes hat Erler in Abstimmung mit dem Innenministerium einen Planungsleitfaden vorgelegt, der die Einbeziehung der Bürger vorschreibt. Zumindest müssen sie gefragt werden, ob sie sich beteiligen wollen. In der „Stuttgarter Erklärung“ zeigte sich die Bauwirtschaft bereit, den Planungsleitfaden umzusetzen. Das Beteiligungsportal der Landesregierung im Internet – dort können Gesetzentwürfe bewertet und kommentiert werden – relativiert Erler in seiner Wirkung. Diese „unerkannte Schönheit“ werde bei manchen Themen gut angenommen, mitunter tue sich dort aber wenig. „Wir glauben nicht, dass sich die Zukunft der Demokratie nur im Internet abspielen wird“, sagt Erler. Ohnehin sei die Bereitschaft der Bürger zum Mitarbeiten und Mithelfen im Südwesten stärker ausgeprägt als andernorts in der Republik. Im obrigkeitsstaatlich geprägten Bayern zum Beispiel gebe es viel weniger von diesem sympathischen „Gewusel von unten.“

Elemente der Bürgerbeteiligung

In ihrer Koalitionsvereinbarung vom Frühjahr 2011 versprachen Grüne und SPD emphatisch einen „neuen Politikstil“ für Baden-Württemberg: eine „neue politische Kultur des Dialogs und der Offenheit für Vorschläge, unabhängig davon, wer sie macht“.

Mit der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 gelang Grün-Rot ein Aufschlag in Sachen direkter Demokratie. Es folgten ein Planungsleitfaden für Infrastrukturprojekte und eine Beteiligungsplattform im Internet. Bürgerentscheide und Volksabstimmungen sollen erleichtert werden.

Im politischen Alltag wurde Grün-Rot immer wieder ein taktisches Verhältnis zur Bürgerbeteiligung vorgeworfen. Im Streit um den Nationalpark Schwarzwald habe die Regierung die Bevölkerung vor Ort übergangen, kritisiert zum Beispiel FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke.