Er bürgt dafür, dass die Stimmen bei der Bundestagswahl am 24. September korrekt in Parlamentssitze umgerechnet werden: Bundeswahlleiter Dieter Sarreither bereitet sich auf die stressigste Nacht seiner Karriere vor.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Das Nervenzentrum der deutschen Demokratie liegt im zwölften Stock eines Hochhauses aus den fünfziger Jahren. Auf dem Fenstersims blüht eine Orchidee in den gleichen Farben, in denen der Flur gestrichen ist – in einer Art Lila und Violett. Zudem ist dort eine kleine Registrierkasse abgestellt, die in einen Puppenkaufladen passen würde. Die hatte Dieter Sarreither schon vorgefunden, als er dieses Büro im Oktober 2015 bezog. Das unverhoffte Accessoire fällt überhaupt nur auf, weil es hier ansonsten so ordentlich ist. Nichts Überflüssiges liegt neben der Computertastatur, auf dem Konferenztisch und in den Regalen.

 

„Algorithmus“ ist eines seiner Lieblingswörter

Das Kinderspielzeug in Sichtweite seines Arbeitsplatzes verniedlicht Sarreithers Job. Er ist oberster Rechenmeister der Bundesrepublik, leitet die Statistikbehörde und zeichnet am 24. September für die korrekte Addition der Wählerstimmen verantwortlich. Aus der unter seiner Aufsicht vollzogenen Registratur der angekreuzten Kandidaten und Parteien wird sich ablesen lassen, wer Deutschland künftig regiert.

Der Bundeswahlleiter legt offenkundig keinen Wert auf ein dekoratives Arbeitsumfeld. Umso kurioser erscheint ein zweiter Gegenstand, welcher neben der Miniaturkasse platziert ist. Das Ding sieht aus wie ein Gerät aus dem Sortiment eines Haushaltswarenhändlers, mit dem sich Kirschen entsteinen lassen. Es hat einen Hebel mit verchromtem Knauf. Unter dem Hebel ist anstelle einer Kirsche ein Stapel Lochkarten eingeklemmt. Das Gerät war ein Hilfsmittel der Statistik, bevor Computer erfunden wurden. Sarreither erzählt fasziniert, dass sich mittels dieses simplen Apparats mit einer einzigen Handbewegung bis zu 1000 Lochkarten zählen ließen. Er muss aber einräumen, dass diese Methode nicht besonders präzise war. Auf einer briefmarkengroßen Metallplakette am Fuß seines Nippesobjekts ist die Fehlertoleranz eingeprägt: plus/minus 4,3 Prozent. Bei Wahlen könnten mit dieser Zählweise glatt die Stimmen der FDP verschwinden.

Sarreither würde einen solchen Scherz nie machen. Er ist ein sehr korrekter Mensch. „Algorithmus“ lautet eines seiner Lieblingswörter beim Erklären, wie Stimmen in Bundestagsmandate umgerechnet werden. Algorithmen nennen Leute wie er die Art, wie Computer denken: ein Rechenverfahren. Wenn er von solchen Dingen spricht, gestikuliert Sarreither viel, als müsste er Grafiken in die Luft malen, die das Erzählte anschaulicher machen. Hinter den Kulissen einer Wahl gehe es „sehr formenstreng“ zu, versichert der 65-Jährige. „Meine Funktion ist es, das Gesetz eins zu eins zu erfüllen“, fügt er hinzu. Worum es dabei geht, steht in einem bibeldicken Wälzer, dessen blauer Leineneinband in Sarreithers Bücherregal auffällt. „BWahlG“ ist auf dem Buchrücken zu lesen. Es handelt sich um die achte Auflage eines Kommentarbands zum Bundeswahlgesetz, 1152 Seiten dick. Das ist das Drehbuch für Sarreithers Rolle am Wahlsonntag und in den Wochen davor.

Oberaufseher über 630 000 Wahlhelfer

Der Bundeswahlleiter bürgt dafür, dass der Wille von 61,5 Millionen Wahlberechtigten im Parlament Niederschlag findet. Bei ihm laufen die Resultate aus 89 000 Wahlbezirken zusammen. Er ist der oberste von 630 000 Wahlhelfern, die deutschlandweit im Einsatz sind, auch wenn er selbst nie Stimmzettel gezählt hat und in der Wahlnacht auch keinen einzigen in die Hand bekommen wird. Selbstverständlich macht der Chefbuchhalter der Wahl auch persönlich von seinem Stimmrecht Gebrauch. Allerdings schon ein paar Tage vor dem Wahlsonntag. Da füllt er seine Briefwahlunterlagen aus. Seit 33 Jahren hat Sarreither selbst keine Wahlkabine mehr betreten. Damals half er erstmals beim Zusammenrechnen der Stimmen. Das war bei der Europawahl 1984. Zwei Jahre zuvor hatte er seinen Dienst beim Statistischen Bundesamt angetreten.

Sarreither erzählt, was nicht viele von sich berichten können: Er hatte gute Mathe-Noten, als er im Mannheimer Kurpfalz-Gymnasium die Schulbank drückte. Zahlen haben ihn stets fasziniert, seien sie in Formeln aufgereiht oder in Statistiken sortiert. Nach dem Abitur studierte er Mathematik und Volkswirtschaftslehre. Heute würde man ihn wohl einen Nerd nennen, wie er seinen Berufsweg begann: Bei der Firma Kienzle im Schwarzwald fütterte er deren selbst entwickelten Computer. Später rechnete er für die Frankfurter Flughafengesellschaft aus, welche Kapazitätsgewinne die umstrittene Startbahn West versprach. Obwohl er sich mit komplexen Rechenprozessen auskennt wie andere Leute mit den Skatregeln, bereitet ihm die Premiere als Bundeswahlleiter Kopfzerbrechen. Sarreither: „Das kostet mich einige Nächte an Schlaf.“

Fake-News irritieren ihn nicht

Das liegt weniger an den Schlagzeilen, die im Vorfeld der Wahl zu lesen sind. Sie berichten von möglichen Hackerattacken und eventuellen Fake-News über den Ausgang der Wahl. Als die Rede auf diese Themen kommt, legt Sarreither plötzlich seinen orangefarbenen Kugelschreiber weg, an dem er zuvor verbissen gedreht, geschraubt und geknipst hatte. Er redet über Sicherheitsarchitektur, Parallelstrukturen und Back-up-Systeme, als wären jene Risiken kalkulierbar wie ein Computerprogramm. „Wir sind wachsam“, versichert er und lehnt sich dabei entspannt im Stuhl zurück. Es könnten durchaus Probleme auftreten, die in der Wahlnacht noch „on the fly repariert werden“ müssten, sagt er, will aber unter keinen Umständen Stichworte liefern, aus denen Alarmismus spricht. „Es ist nicht so, dass gleich das ganze System gestört wird, wenn es an einer Stelle eine Störung gibt“, versichert er.

Einsilbiger wird Sarreither, wenn es um Auskünfte geht, die sich auch nur entfernt politisch deuten lassen könnten. Da wird er schnell verlegen und verliert sich in Floskeln, verweist auf einen „Code of Practice“ der Europäischen Union und „Fundamental Principles“ der Vereinten Nationen. Diese Regelwerke entsprechen den Zehn Geboten für Statistiker – obwohl der EU-Kodex tatsächlich 14 Grundsätze umfasst. Für Sarreither ist die Unparteilichkeit das Wichtigste. Deshalb reagiert er auch ziemlich entgeistert, als die Frage aufkommt, ob er selbst einer Partei angehöre oder schon einmal bei einer Wahl kandidiert habe. Verboten wäre das keineswegs. Sarreither denkt über die Wahl mehr in technischen als in politischen Kategorien. Er umschreibt sie wie ein Computerspiel: „Mathematisch handelt es sich um klare Null-Eins-Entscheidungen“, sagt er, „da geht es um Zahlen, da gibt es keinen Spielraum.“

Die heiße Phase hat längst begonnen

Die heiße Phase fängt für die Parteien am 19. Juni um 18 Uhr an. Bis dahin müssen sie ihre Kandidatur anmelden. Für den Bundeswahlleiter hat die heiße Phase längst begonnen. Er hatte schon einen Rechtsstreit durchzustehen, bei dem es um die Frage ging, ob ein Wähler in Bayern auch für die CDU stimmen dürfe. Im Moment kümmert sich Sarreither darum, dass 67 000 Wahlberechtigte, die im Ausland leben, eine Gelegenheit erhalten, sich an der Bundestagswahl zu beteiligen, zugleich aber jede Möglichkeit ausgeschlossen wird, gleich mehrfach zu wählen. Zudem beschäftigte Sarreither sich als Mitglied der dafür zuständigen Kommission mit der Geografie der Wahlkreise. Die ist keineswegs in Stein gemeißelt. Die Grenzen werden immer wieder neu gezogen, was regelmäßig Ärger stiftet. In diesem Jahr hat Bayern einen zusätzlichen Wahlkreis gewonnen, Thüringen muss einen abgeben. In der Summe bleiben es immer 299. Um ein Haar hätte Hessen einen Wahlkreis verloren, wo Sarreither sein Büro hat. Dabei ging es auch noch um das Heimatrevier des CDU-Generalsekretärs Peter Tauber. Aber so weit ist es dann doch nicht gekommen.

Die Wahlnacht verbringt Sarreither im Reichstag. „Beim letzten Mal waren wir allein“, scherzt er. Einsam wurde es ihm aber nicht, weil 200 Mitarbeiter den Bundeswahlleiter nach Berlin begleiten. Die Medien interessierten sich jedoch mehr für die Parteien und nicht für jene, die für ein korrektes Ergebnis bürgen. „Spannend wird es nur, wenn eine Partei bei 4,999 oder 5,001 Prozent liegt“, sagt Sarreither. Er habe „immer wieder Herzklopfen, bis der letzte Wahlkreis reinkommt“, erzählt der Chefstatistiker. Es sei schon vorgekommen, dass irgendein Wahlvorstand vergisst, seine Zahlen weiterzumelden. Dann müsse die Polizei ihn aus dem Bett klingeln. Die Herren der Zahlen haben jedenfalls keine Zeit, das Ergebnis zu begießen. Am 24. September, so Sarreither, erwarte ihn „eine mit Sprudel und Kaffee zu überstehende Nacht“ – die stressigste seiner Karriere. Partys finden nur in den Parteizentralen statt. Aufatmen kann Sarreither frühestens Mitte Oktober. Bis dahin muss er das amtliche Endergebnis präsentieren. Danach holt er den aufgeschobenen Jahresurlaub nach. Vom Wahlstress entspannen will er sich beim Wandern auf Mallorca.