Der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse kritisiert, dass kaum ein Wähler versteht, wie Stimmen in Mandate umgerechnet werden. Er plädiert deshalb im Interview mit der Stuttgarter Zeitung für eine Reform.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)
Stuttgart - Herr Jesse, wie reformbedürftig ist das Wahlrecht für den Bundestag?
Das Wahlsystem ist reformbedürftig. Es leidet an mangelnder Transparenz. Aber nicht jeder Reformvorschlag ist sinnvoll: So sollte das Wahlrecht nicht auf 16 Jahre gesenkt werden. Diese liefe auf eine Entwertung des Wahlaktes hinaus. Sinnvoll wäre hingegen die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre. Die Effizienz der Politik würde sich wohl erhöhen.
Wo ist der Korrekturbedarf vordringlich?
Bei den Überhang- und Ausgleichsmandaten. Keiner weiß, wie viele Abgeordnete im nächsten Bundestag sitzen werden. Die Gefahr der beträchtlichen Aufblähung ist gegeben. Die Abgeordneten sagen sich: Wenn unsere Partei schon Stimmen verliert, dann wollen wir möglichst viele Mandate behalten. Würde die Zahl der Direktmandate von 50 auf 40 Prozent reduziert, gäbe es wohl keine Überhangmandate mehr – und damit auch keine Ausgleichsmandate.
Sie wollen die Zweitstimme abschaffen. Warum?
Ich möchte aus dem schwer verständlichen Zweistimmensystem ein Einstimmensystem machen. Die eine Stimme des Bürgers zählt doppelt: für den Wahlkreiskandidaten und für dessen Partei. Die Erststimme wurde niemals zu einem „Persönlichkeitsvotum“, weil die Bürger ihre Entscheidung selten vom Wahlkreiskandidaten abhängig gemacht haben. Die großen Parteien sichern ihre Kandidaten auf der Liste ab. Insofern spielt es keine große Rolle, ob der Bewerber von Partei A oder Partei B den Wahlkreis gewinnt. Das Zweistimmensystem ist ein „Zweitstimmensystem“. Die Erststimme ist zweitrangig. Nehmen wir das Beispiel von Wolfgang Bosbach: 2013 erreichte er 58,5 Prozent der Erststimmen, die CDU im Wahlkreis nur 43,7. Bosbachs Ergebnis hat seiner Partei nichts genützt. Bei meinem Modell würden einige Wähler für Bosbach votieren, obwohl sie einer anderen Partei zuneigen. Ihr Stimmen kämen der CDU zugute. Die Politik würde sich stärker bemühen, attraktive Kandidaten aufzustellen.
Lässt sich durch diesen Wahlmodus besser verstehen, wie aus Stimmen Mandate werden?
Jeder Wähler wüsste, wem die eine Stimme zugutekommt. Die von den Parteien manchmal provozierte Wirrnis um Erst- und Zweitstimme hörte auf.
Welche Schwächen hat Ihr System?
Es ist kein „Stein der Weisen“. Der Wähler hätte das Gefühl, bei nur einer Stimme ginge ihm Einfluss verloren. Zudem fallen Stimmen unter den Tisch, wenn die bevorzugte Partei unter fünf Prozent bleibt. Eine Ersatzstimme, für die ich plädiere, bewahrt die Vorteile der Sperrklausel (Schutz vor Zersplitterung) und beseitigt ihre Nachteile („Papierkorbstimmen“). Alle Voten kommen zur Geltung, eine Verfälschung des Wählerwillens unterbleibt.