Landestheater Tübingen Tübingens Theater öffnet als allererstes und Boris Palmer tanzt

Szene aus dem Stück „Irgendwie Irgendwo Irgendwann“ – eine Art inszeniertes Konzert als Hommage an die achtziger Jahre wurde vor Publikum aufgeführt. Foto: TMetz / LTT

Als erste Bühne bundesweit hat das Tübinger Landestheater wieder aufgemacht. Ein Corona-Modellprojekt erlaubt das Ende des Lockdowns. Und Boris Palmer tanzt.

Tübingen - Was anfängt mit einem negativen Schnelltest und aufhört mit einem tanzenden Oberbürgermeister als Zugabe, ist ein Theaterabend, der sich einbrennt ins Gedächtnis wie ein erster Kuss. Das liegt weniger an der Materie selbst als an den äußeren Umständen. „Irgendwie Irgendwo Irgendwann“ ist eine Art inszeniertes Konzert als Hommage an die achtziger Jahre und die Neue Deutsche Welle.

 

Während in den Theatern der Republik nach einer schier unerträglich langen Corona-Zwangspause alle darauf warten, dass es endlich heißt „Vorhang auf“, wird am Tübinger Landestheater seit Dienstagabend wieder gespielt. Ein exklusives Vergnügen in kulturarmen Zeiten. Das ist nur deshalb möglich, weil sich der Rathauschef Boris Palmer etwas einfallen lassen hat, das ein Stück Normalität zurückbringt: Tübingen testet sich frei.

Auch das Zimmertheater lässt den Lockdown hinter sich

Das vom Land genehmigte und wissenschaftlich begleitete Modellprojekt erlaubt es sowohl dem Landestheater als auch dem kleinen Zimmertheater, das sich neuerdings sperrig lieber Institut für theatrale Zukunftsforschung, kurz ITZ, nennt, den ungeliebten Lockdown hinter sich und Publikum wieder hinein zu lassen ins Haus.

Doch bevor die Popmusik Deutsch lernt und im alten Wasserwerk in Bonn, dem einstigen Sitz des Bundestages, die mächtigen Politiker der achtziger Jahre wiederauferstehen und zu den Instrumenten greifen dürfen, kommt der schnelle Nasenabstrich. Ein Zelt ist auf dem Parkplatz des Landestheaters aufgebaut. Die Tests der neuesten Generation tun nicht mehr weh, weil das Stäbchen nur zwei Zentimeter weit eingeführt wird – und mit einem negativen Ergebnis kann die Eingangskontrolle passiert werden. Alles selbstverständlich mit Maske und auf Abstand. Nur ein knappes Viertel der Sitze im großen Saal darf genutzt werden. Die ersten zwei Reihen müssen unbesetzt bleiben.

Es gab Geisterpremieren vor fast leeren Rängen

„Ja, wie schön ist das denn“, ruft Intendant Thorsten Weckherlin und reißt zur Begrüßung die Arme hoch. Die ganze Krise hindurch hat er seine Leute weiterproben lassen, es gab Geisterpremieren vor fast leeren Rängen. Und so konnte er die musikalische Uraufführung von Christoph Roos und Jörg Wockenfuß, die in die Bonner Republik und die Zeit der BRD vor der Wiedervereinigung zurückführt, mit aus der Schublade ziehen.

So viel Aufregung ist selten im Landestheater. Tübingens Kulturbürgermeisterin Daniela Harsch gibt zu, dass sie sich wie ein Teenager vor einer Party fühle. Oberbürgermeister Palmer sagt, dass es lange her sei, dass er einen Abend unter so vielen Menschen verbringen durfte und dass alles „vertretbar ist, was wir hier machen“.

Kanzler Kohl fragt: „Are you ready for the party?“

Dann dürfen die wirklich Wichtigen ran. Bei einer Führung im alten Bundestag verläuft sich Besucherin Caro (Franziska Beyer) und stößt auf eine ungewöhnliche Coverband, lauter Untote, ein Politikerpanoptikum aus bewegten Zeiten. Was zäh und ziemlich konstruiert beginnt, nimmt Fahrt auf. Kanzler Kohl in Adiletten mit Goldstreifen fragt: „Are you ready for the party?“ Schauspieler Jürgen Herold ist es allemal, er tänzelt zuckend und singt durch den Abend im Turbogang.

Es sind nicht die bescheidenen Witze, die plumpen Kohl-Kalauer, die zünden. Es ist die Spiellust, die ansteckend ist. Wie erwacht aus dem Winterschlaf, voller Lebensenergie ist die Truppe. Dennis Junge als dauerrauchender Kanzler Helmut Schmidt. Er trägt rote Socken und Elbsegler und tobt sich am Schlagzeug aus, als ob sich der aufgestaute Frust der Pandemie wegtrommeln ließe.

Rollenwechsel: erst Pazifistin, dann pink-provokant Nina Hagen

Friedenstauben will Petra Kelly, einst Gründungsmitglied der Grünen, steigen lassen. Jennifer Kornprobst wechselt souverän die Rollen, erst Pazifistin, dann pink-provokant Nina Hagen. Im gelben Pullunder gibt Stephan Weber den FDP-Mann Hans-Dietrich Genscher. Und Gilbert Mieroph holt den Die-Rente-ist-sicher-Saarländer Norbert Blüm gekonnt ins Leben zurück. Die letzten Minuten gehören einem quietschfidelen Grünen, der ungeplant die Bühne stürmt. Boris Palmer tanzt sich vor Publikum frei.

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