Der Carus Verlag aus Leinfelden-Echterdingen hat einen besonderen Preis erhalten: Opus Klassik in der Kategorie „Editorische Leistung des Jahres“. Ein Gespräch mit dem Geschäftsführer Johannes Graulich.

Lokales: Armin Friedl (dl)

Leinfelden-Echterdingen - Wenn Musikverleger und Musikschulen Preise vergeben, sind Neuerscheinungen des Carus-Verlags aus Leinfelden-Echterdingen meist dabei. Das gilt auch für den Preis der Deutschen Schallplattenkritik und andere internationale Preise. Der Geschäftsführer Johannes Graulich gewährt im Interview einen Blick hinter die Kulissen.

 

Herr Graulich, ein Projekt herauszubringen mit einem Umfang von 27 CDs, das ist ungewöhnlich und bedeutet auch ein großes unternehmerisches Risiko. Haben Sie so etwas schon einmal gemacht?

Ja. 2009 haben wir das große Mendelssohn-Projekt abgeschlossen, eine Gesamtaufnahme seiner geistlichen Vokalmusik mit Frieder Bernius und dem Kammerchor Stuttgart. Das hatte mit den großen Oratorien „Elias“ und „Paulus“ einen ähnlichen Umfang. 

Bei dem Heinrich-Schütz-Projekt heißt es ja nun, dass wirklich alle Kompositionen von ihm darin enthalten sind. Wie haben Sie das erforscht?

Carus veröffentlicht als Spezialist für Chormusik nicht nur klingende Musik auf Tonträger, sondern vor allem wissenschaftlich-kritische Noten-Editionen für Musiker weltweit. Das ist eigentlich unsere Kernkompetenz: Und Schütz ist dafür ein gutes Beispiel: Was hat ein Komponist zu seinen Lebzeiten komponiert, und wie hat er konkret gearbeitet? Und wie bringe ich dies in eine Darstellung, so dass diese Musik heute zum Klingen gebracht werden kann? Im 17. Jahrhundert gab es ganz andere Schlüssel und Gewohnheiten beim Notieren von Musik. Daher gibt es bei uns im Haus neun Musikwissenschaftler, die mit spezialisierten externen Herausgebern unsere Neueditionen betreuen.

Da ist also viel Kompetenz vorhanden beim Erforschen von älterer Musik.

Ja, unbedingt, auch in Sachen Heinrich Schütz. Mein Vater Günter Graulich, der Gründer des Verlags, hatte bereits in den 1960er Jahren mit der Herausgabe der Stuttgarter Schütz-Ausgabe begonnen. Zunächst aus der Not heraus edierte er für seinen eigenen Chor, denn zu den Schütz-Werken gab es nur Editionen in Notationen, die den Chören nicht vertraut waren; beispielsweise wegen alter Notenschlüssel. Der editorische Weg meines Vaters ebnete damit den Weg zur historisch informierten Aufführungspraxis, die ja in den 1960er Jahren noch ganz in den Kinderschuhen steckte. Die Grundprinzipien der Stuttgarter Schütz Ausgabe sind dabei auch heute noch tragfähig; neue editorische Vorgehensweisen, wie die jetzt erstmals erfolgte Berücksichtigung unterschiedlicher Druckexemplare konnten nahtlos in das bestehende Grundkonzept eingebracht werden.

Und weshalb gibt es bei so viel Notenkenntnis dann überhaupt die CDs?

Auf Tonträgern werden unsere Bemühungen eben hörbar. Und beides – Aufnahme und Notenedition – ist heute notwendig, um das Publikum für Komponisten zu begeistern. Für viele wird das klingende Ergebnis wahrscheinlich sogar wichtiger sein als die Herausgabe und Erforschung der Partituren, auch wenn das Eine ohne das Andere gar nicht möglich ist. Deshalb bieten wir beides an. Unser Kerngeschäft war und ist aber die Edition der Noten. Die Finanzierung von qualitativ hochwertigen CD-Projekten ist zunehmend kompliziert geworden.

Bei der Gesamteinspielung ist Hans-Christoph Rademann und sein Dresdner Kammerchor federführend, der seit 2013 in Stuttgart die Bachakademie leitet. Werden bei Carus künftig Einspielungen der Bachakademie-Ensembles erscheinen?

Die Corona-Pandemie hat viele unserer Planungen durchkreuzt. Die Entscheidung für diese Gesamteinspielung zwischen Rademann und uns auf Basis der Noten von Carus wurde im Jahre 2009 getroffen, also um einiges früher als die Entscheidung, dass Rademann Nachfolger von Helmuth Rilling wird. Die Verbindung mit Rademann geht auf die 1980er Jahre zurück, als sich mein Vater und der Vater von Herrn Rademann im Erzgebirge musikalisch begegneten. Heinrich Schütz war gewissermaßen der dritte im Bunde, denn der Motettenchor Stuttgarter sang in Zeiten des Kalten Krieges Schütz in Sachsen. Dresden war die zentrale Lebens- und Schaffensstation von Heinrich Schütz.

Aber nochmals die Frage: Werden die Einspielungen der Bachakademie mit Rademann künftig bei Carus erscheinen?

Wir sind da im Gespräch. Bei Carus sind Neueinspielungen mit Rademann und der Gaechinger Cantorey von Bach und Händel bereits erschienen, erst in diesem Jahr eine Neueinspielung der Johannespassion. Aber Rademann hat auch die Freiheit, mit anderen Labels zu sprechen. Und man darf sich da nichts vormachen: Das Geschäft mit CDs ist sehr schwierig geworden. Einfach so mal eine Scheibe produzieren – das ist heute nicht mehr möglich. Wer heute eine CD veröffentlichen will, muss schon genau wissen, warum er das mit wem machen will. Die Wahl des Aufführungsorts, der Künstler, Probenpläne, die Wahl des Aufnahmeteams, dazu öffentliche Konzerte: Das alles muss gut geplant und klug kalkuliert werden: ein enormer Aufwand. Rademann hat unglaubliche Arbeit in den erfolgreichen Abschluss des Schütz-Projekts reingesteckt: So entstehen exzellente Aufnahmen. Auch für Carus war diese Gesamtaufnahme ein echter Kraftakt. Da hat vieles gut zusammengepasst.

Und wie hält es Carus mit dem digitalen Publizieren?

Als wir vor gut zehn Jahren mit dem Schütz-Projekt begonnen haben, steckten die Streamingdienste noch am Anfang. Das hat sich grundsätzlich verändert. Heute sind die Streaming-Angebote ungemein wichtig für die Verbreitung von Musik. Aber nennenswerte Einnahmen aus dem Streaming erzielen wir als Klassik-Label leider so gut wie keine. Da sind die Zugriffszahlen gegenüber der Popmusik viel zu gering. Wir sind daher nach wie vor auf den Verkauf von CDs angewiesen - und dieser Markt ist stark rückläufig.

Und wie sieht es mit dem Verkauf von Noten aus? Bei so grundlegenden Neu-Ausgaben wie jetzt bei Schütz können Sie ja damit kalkulieren, dass etliche Musik-Fachbibliotheken auf dieser Welt dieses Kompendium erwerben werden. Aber wie sieht es bei den Chören aus, die jetzt etwa zu Ostern oder zu Weihnachten in ihren Kirchen auftreten wollten?

Die Chöre auf der ganzen Welt sind unsere Hauptkunden: Für sehr viele ist Carus mit über 30 000 publizierten Chorwerken der wichtigste Anlaufpunkt. Dass seit einigen Monaten praktisch nicht mehr gesungen werden darf, merken wir daher auch extrem. Unsere Umsätze sind seit dem Lockdown um mehr als 50 Prozent eingebrochen. Wir versuchen, dem entgegen zu wirken: etwa mit der Herausgabe von Werken für kleine Besetzungen, aber das ist natürlich kein Ersatz. Seit dieser Woche hat Carus damit begonnen, unsere Editionen auf unserer eigenen Plattform digital zu verkaufen, denn auch die Musik wird zunehmend digitaler. Vielleicht kommt unser Angebot jetzt zur genau richtigen Zeit. 

Um mal konkret zu werden: Was kostet denn die Partitur von Bachs Weihnachtsoratorium bei Ihnen? Und was bietet Carus, was andere nicht bieten?

Die Partitur für Dirigenten liegt bei 100 Euro, der Klavierauszug für die Chorstimmen kostet 16,50 Euro. Carus bietet einmal das gesamte Schaffen vieler Komponisten von Vokalmusik, also etwa bei Bach, Mozart, Mendelssohn und Rheinberger; nicht nur die Höhepunkte, sondern die ganze Breite. Die Chorleiter wissen zudem, dass sie bei Carus die aktuellste Ausgabe bekommen, konkret, dass Carus immer auf der Grundlage heutiger wissenschaftlicher Editionstechniken und mit Blick auf die heutige musikalische Praxis ediert. Musiker müssen immer wissen, ob beispielsweise ein Bindebogen oder eine dynamische Angabe über einigen Noten von Bach selbst stammt oder ob sich im Lauf der vielen Transkriptionen in die Spielpraxis eingeschlichen hat. Das muss klar erkennbar sein, denn der Notentext ist die Grundlage jeder musikalischen Interpretation. Auf diesem Qualitätsversprechen beruht der Erfolg von Carus. Musikforschung lernt stetig dazu, selbst zur Musik von Bach. Jeder Musiker entwickelt aus diesen Erkenntnissen seine eigene Herangehensweise, und gute Notenedition bieten Entscheidungshilfen auf dem Weg, das Weihnachtsoratorium möglichst so aufführen zu können, wie es sich das Bach vorgestellt hat. Daher müssen unsere Editionen mit dem allgemeinen Erkenntnisgewinn Schritt halten.