Der Chef der Diakonie Katastrophenhilfe, Martin Kessler, sieht sich in Syrien und dem Irak einer gescheiterten Sicherheitsarchitektur der UN ausgeliefert. Zwanzig Jahre nach Srebrenica gebe es noch immer keine Instrumente, um Völkermord zu verhindern.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Unter den humanitären Hilfsorganisationen macht sich Verzweiflung breit, weil die Politik der Flüchtlingskatastrophe in Syrien und Irak keinen Einhalt gebieten kann. In Mossul immerhin können sie sich besser auf den Flüchtlingsstrom vorbereiten.

 
Herr Kessler, kann man angesichts der Bilder aus Aleppo und Mossul hierzulande noch ruhig Weihnachten feiern?
Auch Mitarbeitern einer Hilfsorganisation, die solche Situationen aus ihrer Erlebniswelt kennen, gehen diese Bilder nahe – sie sind Menschen, die apathisch auf Hilfe warten, schon oft begegnet. Mich macht das wirklich traurig. Ich befürchte, dass wir uns sehenden Auges in den nächsten Genozid hinein bewegen. Ich fühle mich sehr stark an den Balkan erinnert. Denn wir erleben eine Reihe von Kesselschlachten in Aleppo und Mossul – in Idlib wird Ähnliches folgen. 20 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica haben wir es nicht vermocht, Instrumente zu schaffen, die so etwas verhindern. Das finde ich fürchterlich.
Ist die Politik unfähig, eine Krise zu lösen, bei deren Bewältigung Sie nicht hinterher kommen?
Es macht immer wieder wütend, dass man da hilflos zuschauen muss. Als humanitäre Hilfsorganisation sind wir einem System ausgeliefert, das offensichtlich nicht funktioniert. Die bestehende Sicherheitsarchitektur der UN bietet nur begrenzte Möglichkeiten. Wir können immer nur appellieren, dass man Hilfskorridore in die belagerten Städte schafft, Evakuierungen zulässt und Beobachter in die Stadt schickt. Aber bei den Forderungen bleibt es auch. So etwas werden wir immer wieder erleben, wenn das System sich nicht ändert.
Mehr als 60 syrische Hilfsorganisationen haben ihre Aktivitäten aus Protest eingestellt – zurecht?
Es ist Ausdruck der Hilflosigkeit, dass ihnen die Hände gebunden sind. Und es ist ein politisches Zeichen zu sagen: Wenn ihr euch nicht an den Verhandlungstisch setzt, stellen wir die humanitäre Hilfe ein. In Syrien ist es für sie extrem schwer, etwas zu tun. Wir arbeiten dort mit einem syrischen Partner zusammen. Die Partnerorganisationen haben ihre Basis in Damaskus, wo es Einflussversuche der syrischen Regierung gibt. Sie müssen immer wieder auch lokal verhandeln, um irgendwo zu helfen. Die Lage ändert sich täglich. Sie gehen bedingt in Rebellengebiete der syrischen Opposition – nicht in Gebiete, die von Al-Kaida-Ablegern und IS besetzt sind.
Aus der nordirakischen Metropole Mossul sollen bisher mehr als 100 000 Menschen geflohen sein. Wie viele erwarten Sie noch?
Man kann die Zahlen der UN nicht ganz genau nehmen. Aber es wird davon ausgegangen, dass noch eine Million Menschen in Mossul sind. Die Kämpfe ziehen sich von außen nach innen rein. Es gibt Straßenschlachten, dann kommen immer wieder Flüchtlinge raus. Das ist ein langsamer Fluss. Ich befürchte nun, dass es bei einem weiteren Vordringen in IS-Bereiche mit den Menschen aus Mossul nicht so eine solidarische Bewegung des Westens geben wird wie im Falle Aleppo.