Der israelische Wissenschaftler Dan Shechtman erhält den Chemienobelpreis für die Entdeckung des Quasikristalls - und einen einsamen Kampf.  

Schweden - Heute ist Dan Shechtman ein angesehener Wissenschaftler. Doch vor fast dreißig Jahren war das ganz plötzlich und für mehrere Jahre anders. Am 8. April 1982 lieferte sein Elektronenmikroskop an der Johns Hopkins Universität in den USA ein Bild, das er erst nicht glauben wollte. Er prüfte es, und er befand, dass er keinen Fehler gemacht hatte. Er blieb bei dieser Überzeugung, obwohl ein Widerstand über ihn hereinbrach, wie ihn wohl nur wenige Menschen ausgehalten hätten.

 

Shechtman musste, weil er hartnäckig blieb, seine Forschungsgruppe in den USA verlassen und ging nach Israel zurück. Sein Artikel wurde vom "Journal of Applied Physics" postwendend abgelehnt. Zweieinhalb Jahre lang war er für seine Kollegen derjenige, der nicht einsehen wollte, dass beim Mikroskopieren Fehler passieren können. Selbst der Nobelpreisträger Linus Pauling lehnte seinen Befund radikal ab. Erst Ende 1984 erschien seine Arbeit in "Physical Review Letters". Die Zahl der Kritiker stieg daraufhin noch.

Am Mittwoch gab das Nobelkomitee der schwedischen Akademie der Wissenschaften bekannt, dass es Shechtman den Chemie-Nobelpreis "für die Entdeckung von Quasikristallen" verleihen wird - spät, aber dafür ihm ganz alleine. Und das Komitee erkennt an, was Shechtman auf sich genommen hat: "Die Leistung Dan Shechtmans besteht offenkundig nicht nur in der Entdeckung der Quasikristalle, sondern auch darin, dass er die Bedeutung dieser Entdeckung erkannte und entschlossen war, dies einer skeptischen Wissenschaftlergemeinde zu vermitteln." Der Vorgang sei "eine wichtige Lektion für die Wissenschaft".

Damals, nach der Entdeckung im April 1982, überreichte der Laborleiter dem immerhin schon 41 Jahre alten und erfahrenen Wissenschaftler ein Lehrbuch der Kristallografie. Dort nämlich konnte Shechtman finden, was er natürlich wusste: einen Kristall, wie er ihn fotografiert hatte, konnte es nicht geben. Unmöglich.

Shetchman entdeckt eine geometrisch eigentlich unmögliche Symmetrie

Shechtman hatte eine geschmolzene Legierung aus Aluminium und einem Anteil Mangan schnell abkühlen lassen. Den dabei entstandenen Kristall untersuchte er. Zu diesem Zweck schicken Kristallforscher Elektronen- oder Röntgenstrahlen durch das Material. Von der regelmäßigen Struktur des Kristalls werden die Strahlen gebeugt - wie Wasserwellen, die durch einen schmalen Spalt wandern. Es entsteht ein Bild aus regelmäßig verteilten Punkten, aus dem die Wissenschaftler auf die Eigenschaften des Kristalls zurückschließen können.

Das Bild gibt auch die Symmetrie des Kristalls wieder. Man stelle sich einen mit quadratischen Kacheln belegten Boden vor. Die Punkte, an denen je vier Kacheln zusammenstoßen, entsprechen den Punkten, an denen im Kristall je ein Atom sitzt. Dreht man dieses Bild um 90 Grad, erhält man das gleiche Bild wieder. Vier solche Drehungen führen zum Ausgangspunkt zurück. Der Kristall in Form eines Kachelbodens hat also eine Vierfachsymmetrie.

Es gibt weitere Formen der Symmetrie: zweifache, dreifache und sechsfache. Aber es gibt keine fünffache und keine zehnfache. Das ist geometrisch unmöglich. Shechtmans Kristall hatte eine solche verbotene Symmetrie. Das Bild zeigte Kreise aus jeweils zehn Punkten, alle im gleichen Abstand. Verblüfft schrieb er in sein Laborbuch: "10 fold???" Zehnfach???

Bei einem Quasikristall wiederholt sich das Ordnungsmuster niemals

Ein Anstoß zur Erklärung kam von unerwarteter Seite. Mathematiker spielen gerne mit Zahlen. In den sechziger Jahren kam unter ihnen die Frage auf, ob man mit wenigen Mosaiksteinen ein Muster legen könnte, das sich niemals wiederholt. Den Sieg in diesem Spiel trug Mitte der siebziger Jahre der Mathematiker Roger Penrose davon. Mit nur zwei Bausteinen in Form von schiefwinkligen Rechtecken (Rhomben), der eine schlank, der andere fett, legte er einen Fliesenboden, dessen Muster sich nie exakt wiederholt. Seine mathematischen Methoden wurden später genutzt, Mosaiken im Alhambra-Palast in Spanien und im Darb-i-Imam-Schrein im Iran zu analysieren.

Bis zu Shechtmans Entdeckung galt für Kristallografen als ausgemacht, dass Kristalle aus kleinen geometrischen Elementen (Zellen) eine regelmäßige Struktur formen, die sich grundsätzlich unendlich wiederholt. Penrose zeigte, dass geometrisch regelmäßige Zellen eine Struktur bilden können, die im Großen keinerlei Wiederholungen enthält. Der Kristallograf Alan Makay setzte Penroses Muster in ein Kristallbild um - und erhielt eine zehnfache Symmetrie. Fünf Wochen nach Shechtmans Artikel erschien eine Veröffentlichung der Autoren Paul Steinhardt und Dov Levine. Sie gaben dieser neuen Art von Kristallen den Namen Quasikristalle - eine Kurzform für quasiperiodische Kristalle.

Was ist ein Quasikristall? Atome und Moleküle finden sich in solchen Kristallen zwar zu einer Ordnung zusammen, doch das Ordnungsmuster ändert sich im Verlauf des Kristalls so, dass es sich niemals wiederholt. Manche Maße in solchen Kristallen stehen verblüffenderweise im Verhältnis des Goldenen Schnitts, der in Kunst und Wissenschaft seit Jahrhunderten große Bedeutung hat und als besonders ästhetisch empfunden wird.

"Kristall" wurde neu definiert

Quasikristalle wurden inzwischen auch in der Natur gefunden. Auch technische Anwendungen gibt es. Man findet diese Kristalle in besonders hartem Stahl und in Materialien, die Strom und Wärme schlecht leiten und wasserabweisende Oberflächen haben. Die Gemeinschaft der Kristallografen definiert einen Kristall inzwischen nur noch als etwas, dass sich durch ein Diffraktionsbild auszeichnet, wie Shechtman es gemacht hat. Man ist vorsichtig geworden - vielleicht in Vorwegnahme des Appells, den das Nobelkomitee mit Bezug auf Shechtmans Schicksal ausspricht: "Offen zu bleiben und zu wagen, auch etabliertes Wissen infrage zu stellen, sind vielleicht in der Tat die wichtigsten Charaktereigenschaften eines Wissenschaftlers."