Sulzano am Lago d’Iseo ist eigentlich ein gemütliches Örtchen. Doch seit Samstag ist Sulzano der Mittelpunkt der Kunstwelt. Christo hat einen drei Kilometer langen Steg über das Wasser gebaut – und lässt seine Besucher im Takt der Wellen über den See schreiten.

Sulzano - Nicht nur Zuschauer, nicht nur Statist, sondern Teil eines im wahrsten Sinne des Wortes großen Kunstwerkes sein. Das flößt vielen Besuchern am Iseo-See an diesem Samstagmorgen Respekt ein. Zaghaft treten sie vom festen Boden auf die orangene Fläche. Setzen vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Manche ziehen gleich die Schuhe aus. Versuchen, das Schwanken des in der Morgensonne leuchtenden Piers aufzunehmen, den eigenen Rhythmus an den des Kunstwerks anzupassen. Und beginnen ihren Weg über das Wasser.

 

Was der aus Bulgarien stammende Künstler Christo in dem kleinen Alpenort Sulzano am Lago d’Iseo, etwa 100 Kilometer östlich von Mailand gelegen, zwei Jahre lang geplant und in den vergangenen Wochen und Monaten hat aufbauen lassen, wird in diesen Tagen endlich vollendet. Erst durch die Besucher, die Menschen, die die Wege des „Floating Piers“ abschreiten, entsteht Christos Werk: Ein schwimmender Steg, umwickelt mit den für ihn typischen leuchtend orangenen Stoffbahnen. 16 Tage lang, bis zum 3. Juli, kann der drei Kilometer lange Weg über das Wasser beschritten werden. 16 Tage lang sind das beschauliche Sulzano, die Inseln Monte Isola und San Paolo, um die der Pier herum führt, plötzlich das Zentrum der Kunstwelt.

Lange war nicht klar, ob die Piers pünktlich eröffnen könnten

„Wenn wir jetzt nicht hinfahren, existiert das Kunstwerk doch gar nicht.“ Markus Matschke ist früh aufgestanden. Ist aus Mailand nach Brescia gekommen und hat dort den ersten Zug genommen, der am Samstagmorgen an den Iseo-See gestartet ist. Der 46-Jährige kommt aus der Nähe von Aachen und hat seinen Italien-Urlaub extra so gelegt, dass er Teil von Christos Werk werden kann. „Es ist mir einfach wichtig, darauf zu gehen, es zu erleben, zu spüren“, sagt er.

Lange war nicht klar, ob die Piers überhaupt an diesem Samstag wie geplant eröffnet werden können: Noch am Freitag waren Scharen von Helfern auf den orangenen Wegen unterwegs, mobile Nähmaschinen und Tacker im Dauereinsatz. Auch das hier so wechselhafte Wetter mit seinen Regengüssen und heftigen Gewittern schwebte lange wie ein Damoklesschwert über dem Pier. Christo selbst hat das Gerede über eine verspätete Eröffnung gewohnt gelassen genommen: „Ich habe immer gesagt: Der Steg ist fertig, wenn er fertig ist.“ Er ist quasi ein Geburtstagsgeschenk an den Künstler selbst. Christo ist am vergangenen Montag 81 Jahre alt geworden.

Die Idee zu den Floating Piers entstand bereits 1970

Und das Wetter spielt mit. Wie geplant können die ersten Besucher um 7.40 Uhr den schwimmenden Damm betreten. 600 Helfer haben in den vergangenen Wochen 220.000 Plastikwürfel zusammengefügt, Taucher haben den Steg im Boden des Sees verankert. 100.000 Quadratmeter orangeschimmernder Stoff wurden über den 16 Meter breiten Steg gespannt. 15 Millionen Euro soll das ganze gekostet haben – bezahlt von Christo. Das Geld stammt aus dem Verkauf seiner Werke. Eintritt wird – für ihn selbstverständlich – nicht verlangt. „Es gibt keine Tickets, keine Öffnungszeiten, keine Reservierung und keinen Besitzer. Die Floating Piers sind eine Erweiterung der Straße – sie gehören allen“, so Christo. Jeder solle kommen, wann er wolle. 24 Stunden am Tag sind die Piers geöffnet. Nach 16 Tagen wird alles wieder abgebaut und entsorgt.

Die Idee zu den Floating Piers hatten Christo und seine 2009 verstorbene Partnerin Jeanne-Claude bereits 1970. Überall auf der Welt haben die Künstler nach einem geeigneten Ort dafür gesucht. Im Frühjahr 2014 haben Christo und sein Fotograf und Projektmanager Wolfgang Volz den Iseo-See als ideal erkannt. Und tatsächlich: Wo, wenn nicht hier, fügen sich die orangenen Stoffbahnen derart harmonisch in die felsige Umgebung. Lässt das Licht die Stege schon von weitem wie ein Film auf dem Wasser erscheinen. Treffen Gemütlichkeit und Menschenmassen derart respektvoll aufeinander.

„Das hier ist einfach bewegend“, sagt Teresa Archetti. Seit sie denken kann, lebt die Frau eines kürzlich gestorbenen Fischers auf der Monte Isola. Die 80-Jährige steht vor ihrem kleinen Steinhaus am See und betrachtet die Welle aus Menschen, die an ihr vorbei schwappt. Sie stört es nicht, dass ihr kleiner ruhiger Ort nun von täglich 40000 bis 50000 Menschen besucht wird. „Sehen Sie doch: Was für unterschiedliche Gesichter hier vorbei laufen. Sie alle sind so neugierig. Und respektvoll“, sagt sie und greift sich in die weißen Haare. „Die Menschen laufen über das Wasser.“ Sie habe ja schon viel erlebt – „aber so etwas wirklich noch nie.“

Piknicken, Kopfstand, Schlendern – Fast alles ist erlaubt

Das anfängliche Zögern beim Gehen weicht schnell einer besonderen Vertrautheit. Die Ersten setzen sich hin, lassen den Blick schweifen, klopfen auf die Plastikwürfel, legen sich hin, lauschen dem Glucksen der Wellen, die von unten gegen den Steg schlagen. Die hungrige Familie macht mitten auf dem Steg ein Picknick. Das Mädchen mit dem blondem Pferdeschwanz schlägt ein Rad, ein paar Meter weiter wagt der Mann in den 50ern einen Kopfstand. Auch das Orange beginnt sich zu verändern: Die heraufschwappenden Wellen und nassen Fußabdrücke färben es an manchen Stellen fast rot, die Sonne lässt es an anderen Gold schimmern. Der Takt der Wellen gibt nun den Rhythmus vor. Keiner hetzt, das Sprichwort „der Weg ist das Ziel“ trifft wohl nirgends so zu wie auf den Floating Piers. Markus Matschke hat schon viele Arbeiten von Christo gesehen. Die Piers, sagt er, seien das bisher schönste dieser Erlebnisse. „Einfach beeindruckend. Christo bringt die Menschen hier in Gleichklang.“