Der OB von Ostfildern, Christof Bolay, hat unangekündigte „Spaziergänge“ in seiner Stadt verboten. Nun wird er auf Facebook und Twitter bedroht und beleidigt, Hunderte fordern seinen Rücktritt. Das liegt vor allem an einem einzigen Satz.

Klima und Nachhaltigkeit: Julia Bosch (jub)

Ostfildern - Seine Worte am Telefon wählt Christof Bolay vorsichtig. „Ich bin im Austausch mit der Polizei. Es könnte möglicherweise zu Anzeigen kommen.“ Der Oberbürgermeister von Ostfildern erlebt seit dem Wochenende das, was man einen Shitstorm oder ein Kreuzfeuer nennt, inklusive Morddrohungen und Beleidigungen. Hunderte fordern seinen Rücktritt. Was ist passiert?

 

Auch andere Städte haben solche Verbote

Die Stadt Ostfildern hat am 26. Januar eine Allgemeinverfügung erlassen, in welcher die Teilnahme an unangekündigten „Spaziergängen“ verboten wird. So weit, so harmlos – auch andere Städte in der Region Stuttgart wie etwa Kirchheim unter Teck, Esslingen oder die Landeshauptstadt selbst haben solche Verbote gegen nicht genehmigte Versammlungen von Gegnern der Coronapolitik erlassen.

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Doch Bolay wird vor allem ein Passus in dieser Verfügung von Ostfildern zum Verhängnis. So heißt es im vorletzten Absatz: „Um sicherzustellen, dass das Versammlungsverbot eingehalten wird, wird die Anwendung unmittelbaren Zwangs, also die Einwirkung auf Personen durch einfache körperliche Gewalt, Hilfsmittel der körperlichen Gewalt oder Waffengebrauch angedroht.“

OB wird als „Diktator“ und „Verbrecher“ beschimpft

Nachdem der OB die Allgemeinverfügung mit den Worten „Es geht nicht anders“ am Donnerstag in den sozialen Netzwerken geteilt hatte, wurde der Beitrag auf Twitter bis Montagnachmittag mehr als 1200-mal kommentiert. Auf Facebook hat er die Kommentarfunktion eingeschränkt, dennoch stehen dort knapp 600 Kommentare.

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Nutzer werfen ihm vor, dass er ein „Diktator“ sei, ein „skrupelloser Verbrecher“, dass es sich um eine „Kriegserklärung gegen das Volk und die Demokratie“ handele, einer vergleicht Ostfildern mit Afghanistan. Teilweise ist zumindest indirekt eine Morddrohung erkennbar, deshalb ist Bolay im Austausch mit der Polizei. So schreibt ein Nutzer: „Namen merken, wenn aufgeräumt wird“, ein anderer: „Sie werden das #GameOver live und in Farbe erleben. Ich bete für Sie, dass die Menschen, welche durch Sie diskriminiert und herabgewürdigt werden, nachsichtig mit Ihnen sein werden.“

Umstrittener Passus stammt aus Polizeigesetz

Tatsächlich hat sich der Oberbürgermeister nichts zuschulden kommen lassen. Der umstrittene Gewalt-Passus stammt aus Paragraf 64 des baden-württembergischen Polizeigesetzes. Und solche Formulierungen, also dass „unmittelbarer Zwang angewendet“ sowie „einfache körperliche Gewalt, Hilfsmittel der körperlichen Gewalt oder Waffengebrauch“ angedroht wird, sind laut dem baden-württembergischen Städtetag „juristisch gebräuchlich“. Es gehe dabei keineswegs darum, dass tatsächlich auf Demonstranten geschossen werde. „Da wird etwas aus dem Kontext gerissen“, sagt Sebastian Ritter, Ordnungsdezernent beim Städtetag.

Polizisten und Mitarbeitende von Ordnungsbehörden müssten immer verhältnismäßig reagieren und sich an gewisse Stufenregeln halten, auch bei unangekündigten „Spaziergängen“, sagt Sebastian Ritter. Das heißt: Demonstranten ansprechen, noch einmal ansprechen, Platzverweise aussprechen, Personalien aufnehmen. „In der Praxis lässt man solche unangekündigten Demonstrationen auch manchmal einfach laufen, damit es nicht eskaliert“, sagt Ritter. Szenen wie beim G-7-Gipfel in Hamburg im Jahr 2017 wolle man unbedingt vermeiden. Auch die Stadt Ostfildern hat inzwischen gemeinsam mit dem Polizeipräsidium Reutlingen eine Mitteilung veröffentlicht und darin klargestellt, dass es keinen „Schießbefehl“ oder Ähnliches bei Demonstrationen gebe. Es sei „lediglich korrekterweise darauf hingewiesen worden, dass ein Versammlungsverbot auch zwangsweise durchgesetzt werden kann und welche Bandbreite an Einsatzmitteln der Polizei allgemein – für verschiedenste Einsatzlagen – per Gesetz zur Verfügung stehen“, heißt es. Der Einsatz der Schusswaffe zur Durchsetzung eines Versammlungsverbots sei „ausgeschlossen“.

OB fühlt sich instrumentalisiert

Und wie geht es Christof Bolay nun inmitten dieses völlig außer Kontrolle geratenen Kreuzfeuers? „Das geht nicht spurlos an mir vorüber“, gibt der 53-jährige SPD-Politiker zu. Er sei aber überzeugt, dass er inhaltlich richtig gehandelt habe: „Ich bin bewusst instrumentalisiert worden. Und das hat weder mit Ostfildern noch mit mir etwas zu tun.“ Stattdessen würden einige Menschen beinahe schon „berufsmäßig“ auf solche Meldungen warten, um dann einen Shitstorm auszulösen, sagt er. „Wir Demokraten müssen nun hinstehen.“

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