Tübingen/Stuttgart - Die Mühe hat sich gelohnt: Auf Ausbildungsportalen und in den sozialen Netzwerken hat das Tübinger Modehaus Zinser um neue Lehrlinge geworben, hat Flyer verteilt, Mitarbeitern Prämien für die Vermittlung gezahlt und den Bewerbungsvorgang vereinfacht. Jetzt zählt das Unternehmen zum neuen Ausbildungsjahr erstmals so viele Azubis wie vor der Krise. 40 junge Leute machen in Tübingen oder in den Filialen in Reutlingen, im Schwarzwald und am Bodensee eine Lehre. Zinser hat sogar mehr Bewerber genommen, als das Modehaus Stellen ausgeschrieben hatte, und geht damit auf Nummer sicher: Denn in der Modebranche wird der Nachwuchs rar.
Die Azubis fragen: Ist meine Stelle auch sicher?
„In jedem Bewerbungsgespräch ging es darum, wie sicher der Arbeitsplatz ist“, sagt Zinser-Geschäftsführer Steffen Mächtle. „Wir betonen dann, dass wir trotz Corona ein starkes Unternehmen sind und gerne alle Azubis nach erfolgreicher Ausbildung übernehmen wollen.“
Doch die Skepsis der Schulabgänger ist groß. Sie haben gesehen, dass ihre Lieblingsmodeläden monatelang geschlossen hatten, während die Lebensmittelhändler, Drogeriemärkte, Apotheken und Optiker daneben offenstanden. „Die Leute möchten einen sicheren Job“, sagt Michael Heinle vom Handelsverband Baden-Württemberg. „Viele wählen dann lieber einen Beruf, der als systemrelevant gilt.“
Ausgerechnet jene Branchen müssen am stärksten um Nachwuchs und Fachkräfte werben, die am längsten von den Schließungen betroffen waren – neben dem Modehandel etwa die Reisewirtschaft, Gastronomie und Hotellerie. Schon jetzt sind Tausende Mitarbeiter in andere Branchen abgewandert. Immer wieder wird der Lebensmitteleinzelhandel genannt, aber auch Autohäuser oder die öffentliche Verwaltung.
Fachkräfte wechseln die Branche, weil das Geld nicht mehr reicht
Neben der fehlenden Sicherheit fehlte den Wechslern oft das Geld. „Wenn Sie eineinhalb Jahre in Kurzarbeit sind, dann schlägt sich das im Geldbeutel nieder“, heißt etwa beim Deutschen Reiseverband (DRV). „Im Moment ist es schwierig, dafür junge Leute zu begeistern.“
Etlichen Unternehmen fehlen derzeit auch Zeit und Kraft, wieder eigene Fachkräfte heranzuziehen. Die Teckcenter-Reisebüro GmbH hat in ihren sieben Filialen in der Region Stuttgart drei Mitarbeiterinnen verloren – an ein Unternehmen, an einen Notar und an eine Anwaltskanzlei. Man werde bald wieder Probleme haben, Fachkräfte zu finden, sagt Marco Straub, der ein Reisebüro im Stuttgarter Stadtteil Vaihingen leitet – nämlich dann, wenn die Geschäfte besser als jetzt liefen. „Eine Ausbildung aber ist zeitintensiv. Wenn wir uns wieder auf das Tagesgeschäft konzentrieren können, dann stelle ich wieder einen Azubi ein“, sagt Straub. „In der jetzigen Situation zählen jedoch Erfahrung und Schnelligkeit.“
Im Gastgewerbe brach die Zahl der neuen Azubis um 15 Prozent ein
Immerhin kann das Familienunternehmen noch ganz auf ausgebildete Fachkräfte zählen. Doch in der Hotellerie und Gastronomie werden diese Jahr für Jahr weniger. Anfang Juni gaben bei einer Umfrage vier von zehn befragten Mitgliedsunternehmen des Branchenverbands Dehoga an, dass während des Lockdowns Mitarbeiter in andere Branchen wechselten. Seit der Pandemie ist die Zahl der Beschäftigten allein im Südwesten um mehrere Zehntausend gesunken. Besonders schwer wiegt der Abgang der gelernten Köche und Hotelfachfrauen, die Fachexpertise schwindet weiter. Die Zahl der neuen Azubis brach im vergangenen Ausbildungsjahr gar um 15 Prozent ein.
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Auch deshalb wirbt der Dehoga landauf, landab für den Einstieg in die Branche. Doch diese hat es nicht nur wegen der langen Schließungen und der Unsicherheit um den Arbeitsplatz schwer. Viele der jungen Leute seien auch nicht mehr bereit, niedrige Löhne und lange Schichten hinzunehmen oder etwa auch den ruppigen Ton in manchen Küchen, heißt es bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). „Wir brauchen normale Arbeitsbedingungen und anständige Löhne. Dann werden sich auch wieder mehr junge Leute für den Beruf entscheiden.“
Den Schulabgängern fehle es an Orientierung, heißt es bei der IHK
Doch derzeit falle den jungen Leuten das Entscheiden schwerer als sonst, sagt die Präsidentin der IHK Region Stuttgart, Marjoke Breuning. Den Schulabgängern fehle es an Orientierung, da oftmals die Besuche von Unternehmen und Ausbildungsbotschaftern in den Schulen entfielen, zudem stellten viele Lehrstellenbörsen und Ausbildungsmessen auf digitale Formate um. Doch gerade junge Leute bräuchten eine intensive persönliche Begegnung, den direkten Kontakt. „Sie sind verunsichert“, sagt Breuning. „Und manchmal raten auch die Eltern, dass ihre Kinder lieber noch eine Ehrenrunde in der Schule drehen und bis zum nächsten Jahr warten.“
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Das bekommt Breuning auch als Chefin des Stuttgarter Wäschefachgeschäfts Maute-Benger zu spüren. Drei Lehrstellen bot sie in den vergangenen Jahren an – in diesem Jahr ist bisher noch keine besetzt.
Hier hat man beim Modehaus Zinser mit den neuen Azubis mehr Erfolg – wobei Erfolg in diesen Zeiten relativ ist. Denn den akuten Personalmangel können die Fachkräfte von morgen nicht beheben. 120 der 730 Beschäftigten gingen während der Lockdowns verloren. 70 neue Mitarbeiter gewann das Modehaus seit Juni in einem Kraftakt neu hinzu. Noch fehlen weitere 50, um den gewohnten Service zu bieten, der den guten Ruf des Unternehmens nährte, betont Geschäftsführer Mächtle. „Wenn das Personal nicht da ist, geht das zulasten des Umsatzes. Wir leben vom direkten Kontakt zum Kunden.“
Die Branchen konkurrieren oft um dieselben Fachkräfte
Mächtle räumt ein, dass der Modehandel derzeit „an Attraktivität verloren“ habe, doch er hoffe, dass das nicht auf Dauer sei. Wer sich aus der Branche verabschiedet habe, sei jedoch kaum noch zurückzugewinnen. Auch deshalb verstärkt Zinser seine Bemühungen um den Nachwuchs und neue Fachkräfte – allerdings machen das andere Unternehmen anderer Branchen auch. „Es steht ein eingeschränkter Pool von Mitarbeitern zur Verfügung“, sagt Mächtle. „Die Konkurrenz um sie ist groß.“