„Klare städtebauliche Vorstellungen haben wir jedoch alle vermisst“, sagt der Sozialwissenschaftler Tilman Harlander. Nicht anders sieht das der Stuttgarter Bauingenieur Werner Sobek: „Wenn man immer nur nach bestem Wissen den nächsten Schritt tut, dann führt die Summe aller Schritte noch nicht in die richtige Richtung.“ Als Ergebnis der „kleinen Schritte“ bescheinigt er Stuttgart ein „immer unterdurchschnittlicheres Erscheinungsbild“. Eine Amtsperiode reicht freilich nicht, um eine lebenswerte Stadt mit unverwechselbarer Identität zu schaffen. Dreißig bis vierzig Jahre, schätzt Sobek, dürfte dieser Entwicklungsprozess in Anspruch nehmen. „Aber man muss halt mal anfangen.“

 

Eine gewaltige Herausforderung bedeuten indes schon die unmittelbar anstehenden Aufgaben. Harlander: „Wie verschafft man dem Grundgedanken einer Stadt, die sich von der Parzelle her entwickelt, mehr Raum?“ Sprich: wie bringt man auch Bürger in Grundbesitz? Wie lässt sich die Städtebaukatastrophe hinter dem Bahnhof, das keineswegs nur aus Sicht der Masterplan-Verfasser Verena und Klaus Trojan viel „zu schnell und zu opportunistisch“ vermarktete Europaviertel, städtebaulich und architektonisch nachbessern? Die gleiche Frage stellt sich für die städtebaulichen Wunden, die Stuttgart 21 reißt.

Eine einmalige Gelegenheit

Auf der To-do-Liste stehen ferner die Planung des Rosensteinviertels unter Einbeziehung der Bürger, die Aufwertung des stark vernachlässigten öffentlichen Raums, der produktive Umgang mit der enormen Flächenknappheit im Stadtgebiet, die Verkehrswege, Neckarpark, Neckarufer . . . Und nicht zuletzt hat sich der Baubürgermeister dem Problem zu stellen, dass die städtischen Liegenschaften zum Referat des Finanzbürgermeisters gehören, eines entschiedenen Verfechters des Verdrängungswettbewerbs. Für das Verschwinden des einzigen Cafés am Marktplatz etwa hatte Michael Föll seinerzeit nur ein Schulterzucken übrig. Dass die Politik dem freien Spiel der kapitalistischen Kräfte nicht hilflos zusehen muss, haben andere Städte mit entsprechenden Satzungen und Fördermaßnahmen ebenfalls schon vorgeführt. Das bekommt man aber nur mit, wenn man nicht permanent im eigenen Saft schmort. Dennoch, eine reelle Chance, glaubt der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete und einstige Präsident der Bundesarchitektenkammer Peter Conradi, hat der Baubürgermeister in Stuttgart nur, wenn er auch über die Liegenschaften verfügen kann.

Die Grünen im Gemeinderat haben jetzt eine einmalige Gelegenheit: das zu tun, wofür sie einst angetreten sind und wofür man sie gewählt hat – hoffnungsvoll und wider alle Lektionen der politischen Realität –, nämlich es anders und besser zu machen als CDU und SPD. Zwar ist ihr Kandidat Peter Pätzold immerhin Architekt, anders als der Jurist Matthias Hahn. Auf Pätzolds Homepage kann man nachlesen, dass er an mehreren Zeltkonstruktionen des Büros Rasch und Bradatsch mitgearbeitet hat. Auch ein paar Allgemeinplätze zum Thema Stadtplanung hat er aufgeschrieben („Gute, zukunftsfähige Stadtplanung braucht eine verlässliche Planungskultur“), aber ob er wirklich die Statur für das Amt mitbringt, müsste er in der Konkurrenz mit herausragenden Mitbewerbern erst beweisen. Darum: noch ist es nicht zu spät, ein Bewerbungsverfahren auszuschreiben und den kompetentesten Baubürgermeister für Stuttgart – ob männlich oder weiblich – zu finden. Wenn es dann noch gelingt, einen Gestaltungsbeirat zu installieren, worüber gerade eine Diskussion in Gang gekommen ist, hätten sich die Grünen unsterbliche Verdienste um diese Stadt erworben.