Sie schien ein normales Mädchen zu sein. Doch mit 17 fällt Larissa Rahmani in eine Depression, ein Jahr später bringt sie sich mit Psychopharmaka um. Hätte die Tragödie verhindert werden können?

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Sinsheim - Die Eltern bemerkten lange nicht, dass sich ihre Tochter in Lebensgefahr befindet. Wie auch? Larissa war doch schon immer ein ruhiges, nicht besonders kontaktfreudiges Kind, schüchtern halt. Dass sie als Teenager auf die gut gemeinten Ratschläge des Vaters zunehmend eingeschnappt reagierte, sich immer häufiger auf ihr Zimmer zurückzog und auf ein Poster des Vampirdarstellers Robert Pattinson starrte, schien zum gewöhnlichen Repertoire einer Heranwachsenden zu gehören. Ansonsten: keine Probleme. Larissas Noten im Gymnasium waren gut. Sie verschlang mädchentypische Literatur, die „Twilight-Saga“ oder „Tribute von Panem“, spielte wundervoll Geige und übte sich in der filigranen Kampfkunst Goshin Dao. Jetzt ist sie tot.

 

Mohsen Rahmani und Marina Nußhag-Rahmani sitzen im Wohnzimmer ihrer Sinsheimer Doppelhaushälfte. Die Eheleute machen eine private Tragödie öffentlich, weil sie hoffen, dadurch anderen Betroffenen helfen zu können. „Wir wollen zur Aufklärung von Missständen beitragen“, sagt er, 56, studierter Mathematiker und selbstständiger Importkaufmann. „Ich bin überzeugt, dass Larissa noch leben würde, wenn die betreuende Einrichtung ihre Aufgabe mit der notwendigen Verantwortung wahrgenommen hätte.“ Sie, 54, in Vollzeit tätige Chemikerin, sagt, dass es für Eltern schwierig sei zu beurteilen, was richtig oder falsch ist für einen jungen Menschen, der von einer tiefen Schwermut erfasst wurde: „Wie soll man erkennen, wo die Grenze zwischen normalem pubertärem Verhalten und einer ernsten psychischen Störung verläuft?“

Den ersten deutlichen Hinweis liefert die Tochter im November 2012 selbst. Sie habe gegoogelt, was mit ihr nicht stimmen könnte, erzählt Larissa ihren Eltern, und sei auf ein passendes Krankheitsbild gestoßen. Sie gab Begriffe wie „Angst vor anderen Menschen“, „kein Selbstvertrauen“ oder „Selbstmordgedanken“ ein und landete auf Websites zum Thema Depression. Larissa sagt an jenem grauen Herbsttag: „Ich glaube, ich brauche Hilfe.“

Marina Nußhag-Rahmani kontaktiert sofort einen Sinsheimer Psychologen, dann einen örtlichen Psychiater, der Larissa wiederum zur weiteren Untersuchung ins Zentralinstitut für Seelische Gesundheit nach Mannheim überweist. Dort offenbart sich die 17-Jährige: Sie habe sich bereits mehrfach im Internet über Suizidmethoden informiert, ritze sich heimlich mit einem Messer die Haut blutig und spüre einen enormen Druck von Seiten ihres Vaters, der hohe Anforderungen an sie stelle, sie kontrolliere und sie für ihre Antriebslosigkeit kritisiere. Die Psychiaterin diagnostiziert bei der Patientin eine „schwere depressive Episode“ und „soziale Phobien“.

Chemische Stimmungsaufheller für das Mädchen

Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem, was Larissa ihrer Ärztin erzählte, und dem, was ihr Vater beobachtete. Im August 2012 sei die Familie zum Badeurlaub in Tunesien gewesen, erzählt Mohsen Rahmani beispielsweise. Auf den seinerzeit entstandenen Fotos, die Larissa im Bikini am Strand zeigen, seien keinerlei Schnittwunden zu erkennen. Die Selbstverletzungen, von denen sie der Psychiaterin erzählte, hält der Vater daher „für etwas, das nur in ihrer Fantasie stattgefunden hat“. Dasselbe gilt für drei Selbstmordversuche, von denen die Tochter später in der Klinik berichtete.

Am 21. März 2013 wird Larissa Rahmani in der Mannheimer Kinder- und Jugendpsychiatrie stationär aufgenommen, was ein Glück ist, denn es gibt hierzulande zu wenig Therapieplätze für die ständig steigende Zahl psychisch kranker Heranwachsender. Larissa erhält ein Antidepressivum. In diesem Fall, erklären die Ärzte den Eltern, sei ohne chemische Stimmungsaufheller eine Behandlung kaum möglich.

Tatsächlich geht es Larissa bald besser. Sie nimmt an den Sport- und Kunstangeboten der Klinik teil, öffnet sich in den Gesprächen mit ihrer Ärztin und besucht die Schule für Kranke am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit. Im Mai besteht sie als Gastprüfling am Mannheimer Elisabethgymnasium das Abitur, Notendurchschnitt 2,1. Anschließend beginnt sie ein Praktikum in einer Kindertagesstätte. Die Klinik bescheinigt ihr einen „deutlichen Zugewinn an Sicherheit und Stabilität in der sozialen Interaktion“.

Nach einem viertel Jahr wird die stationäre Behandlung beendet. Die Klinik empfiehlt, „Larissa möglichst zeitnah in einer pädagogisch-therapeutischen Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen und sie dort schrittweise zu verselbstständigen“. Ins Elternhaus solle sie wegen des konfliktträchtigen Verhältnisses zu ihrem Vater nicht zurück. Am 8. Juli wird sie entlassen, „in emotional stabilem Zustand“, wie es in einem Ärzteschreiben heißt. Ein Sozialarbeiter bringt Larissa direkt in eine betreute Wohngruppe im nahe gelegenen Wiesloch. Geplant ist, dass sie zunächst ein freiwilliges soziales Jahr absolviert, nebenher den Führerschein macht und anschließend studiert. Doch dazu kommt es nicht: Larissa wird nur noch sieben Wochen leben.

Der Abwärtsstrudel

In der WG gerät sie in einen Abwärtsstrudel. Larissa bekommt nicht mehr das, was sie dringend benötigt. Der klar strukturierte Alltag, den sie während des Klinikaufenthalts hatte, ist plötzlich verschwunden. Und die Mannheimer Ärztin, zu der sie Vertrauen gefasst hat, ist nach einer kurzen Übergangszeit nicht mehr für sie zuständig. Stattdessen muss sich Larissa am 16. August bei einer Wieslocher Psychiaterin vorstellen. Am Ende des sogenannten Erstgesprächs verschreibt die Medizinerin ihrer labilen Patientin zwei Großpackungen Psychopharmaka. Die pädagogische Betreuerin, die vor der Tür wartet, nimmt Larissa das Rezept nicht ab.

Das Wochenende 24./25. August verbringt Larissa bei ihrer Familie in Sinsheim. Beim Abschied am Sonntagabend verabredet die fünfköpfige Familie, zwei Tage später ins Outlet-Center nach Zweibrücken zu fahren. Doch kurz vor dem vereinbarten Zeitpunkt sagt Larissa ab. Sie sei müde und habe keine Lust auf Shopping, erklärt sie ihrem Bruder am Telefon. Ein Kassenbon belegt, dass Larissa 17 Stunden zuvor in einer Wieslocher Apotheke das Rezept für die Psychopharmaka eingelöst hat: 100 Stück Venlafaxin und 100 Stück Quetiapin. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, 28. August, nimmt sie alle Tabletten auf einmal. Sie stirbt in ihrem WG-Zimmer.

Mohsen Rahmani versteht nicht, warum ein Platz in der betreuten Wohngruppe monatlich 2619 Euro kostet (wovon in Larissas Fall die Eltern circa ein Drittel zahlen mussten, den Rest übernahm das Sozialamt), aber seine psychisch kranke Tochter offenbar meistens sich selbst überlassen blieb. Larissas Eltern haben Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung bei der Staatsanwaltschaft Heidelberg gestellt.

Der Träger der Wieslocher WG will sich nicht selbst zu den Vorwürfen äußern. Gegenüber der Stuttgarter Zeitung erklärt der Anwalt des Sozialpsychiatrischen Hilfsvereins Rhein-Neckar, Otmar Kreischer, dass es keinerlei Versäumnisse der Mitarbeiter gegeben habe und dass er davon überzeugt sei, dass das Verfahren demnächst eingestellt werde. Fest steht indes, dass Larissa Rahmani kein Einzelfall ist: Im aktuellen Jahresbericht des Vereins ist nachzulesen, dass es bereits 2012 zwei Suizide in den betreuten Wohngruppen gab.

Sie hinterlässt einen Brief und ein Tagebuch

Das Ehepaar Rahmani lernte seine Tochter besser kennen, als sie tot war. Larissa hinterließ einen Abschiedsbrief. In ihrem Zimmer fanden die Eltern ein Tagebuch. Es gibt die Berichte der Klinik. Und ein WG-Mitbewohner packte aus. Diese Einzelteile ergeben das Bild von einer jungen Frau, die jedes Vertrauen zu sich selbst und anderen verloren hatte.

Larissa fand sich hässlich, obwohl sie hübsch war. Sie nahm sich auf dem Gymnasium in Sinsheim als Außenseiterin wahr. Sie hatte sich in der Mannheimer Psychiatrie unglücklich in jemanden verliebt. Und sie wurde in der Wieslocher Wohngruppe offenbar von einer Gleichaltrigen gemobbt. Viele Teenager empfinden und erleben Ähnliches. Aber Larissa war zu krank, um die alltäglichen Belastungen zu ertragen.

Mohsen Rahmani bekämpft seine tiefe Trauer mit rasender Wut. Er schimpft über „fahrlässige Mediziner“ und „unfähige Pädagogen“. Er will, dass betreute Wohngruppen künftig, ähnlich wie Pflegeheime, staatlich kontrolliert werden und dass Ärzte psychisch Kranken keine Großpackungen gefährlicher Medikamente mehr verschreiben dürfen. Erst nachdem Larissas Vater seine politischen Forderungen losgeworden ist, kann er über seine persönlichen Schuldgefühle reden. Heute wisse er, dass seine Tochter jede kritische Äußerung als unerträglichen Druck wahrgenommen habe, weil dieses Empfinden zu ihrer Krankheit gehörte: „Natürlich habe ich ein schlechtes Gewissen.“ Was würden die Eltern im Nachhinein anders machen? Marina Nußhag-Rahmani sagt, dass sie und ihr Mann Larissa vielleicht noch häufiger hätten fragen sollen, wie es ihr geht. „Aber ob unsere Tochter ehrlich geantwortet hätte, bezweifle ich. Erzwingen kann man nichts.“

Larissa ist seit mehr als einem halben Jahr tot. Ihr Zimmer haben die Eltern unverändert gelassen, nur das Poster des Vampirdarstellers Robert Pattinson hängt nicht mehr an der Dachschräge. Im Regal steht die „Twilight Saga“. Man schlägt einen Band auf und stößt auf die Worte der Romanheldin Bella Swan: „Sterben ist friedlich, leicht. Leben ist schwerer.“