Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Alle zwei Wochen gibt es Supervisionssitzungen, bei denen die zurzeit 30 ehrenamtlichen AKL-Mitarbeiter reihum über ihre Fälle sprechen. Immer dann, wenn die Krisenbetreuung nicht fruchtet, wenn sie offenbar keinen Schritt weiterführt, sind der Austausch in der Gruppe und das Feedback durch die beiden hauptamtlichen Sozialpädagoginnen besonders wichtig. „Niemand von uns ist in der Lage, einen Suizid zu verhindern“, weist Ellen Wittke gegebenenfalls auf Grundsätzliches hin. „Nicht wir sind verantwortlich, sondern allein der Mensch, der sich das Leben nimmt.“

 

Es gibt Jugendliche und Erwachsene, die sich aus Liebeskummer umbringen wollen oder unter Mobbing in der Schule oder im Job extrem leiden. Es gibt junge Frauen, die nach der Geburt ihres ersten Kindes in ein seelisches Tief fallen, oder ältere Männer, die den Ruhestand nicht ertragen. Es gibt Geschiedene und Witwer, die das Alleinsein nicht verkraften. Auch Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not können zerstörerisch wirken. Suizidprävention versucht all denjenigen, die die Zukunft fürchten, Zuversicht zu vermitteln.

„In unserer materiellen Gesellschaft herrscht absolute Gefühlsknappheit – bis auf das Gefühl der Angst“, sagt Heidi Malzacher. Die Rentnerin und Vorsitzende des AKL kann die von ihr diagnostizierten „krank machenden Lebensstrukturen, die uns aufgebürdet und aufgezwungen werden“, nicht ändern. Aber sie möchte zumindest „Einzelnen helfen, die in ihrer Not den Mut aufbringen und sich an uns wenden“.

Anke Dietz* klingelt am 22. Juli 2014 an der Tür der Beratungsstelle in der Römerstraße. Die Stuttgarterin ist zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt. Sie berichtet von einer schwierigen Kindheit, einer gescheiterten Ehe, Stress im Beruf und einer zweiten unglücklichen Liebe. Als ihr dominanter Freund verlangt habe, dass sie sich die Fingernägel künstlich verlängern lasse, sei in ihrem Kopf die zwanghafte Vorstellung entstanden, dass sämtliche Kunststoffgegenstände verseucht seien. Nicht einmal Lebensmittelverpackungen könne sie noch anfassen. Lieber hungere sie.

Häufig sind es neue seelische Wunden, die alte seelische Wunden aufbrechen und das Gefühl entstehen lassen: Ich genüge nicht, bringe nicht das, was von mir erwartet wird. Verzweifelte Menschen entwickeln Verhaltensweisen, die psychisch Unbelasteten geradezu grotesk erscheinen. Anke Dietz wird immer stärker von ihrer Plastikphobie beherrscht. Wie gelähmt liegt sie im Bett, sie kann nicht mehr arbeiten. In der Familie und im Freundeskreis findet sie niemanden, der sich mit ihren irrationalen Ängsten auseinandersetzen will. Wie soll man jemandem helfen, der offenbar überall Gespenster sieht?

Bei Iris Rupp führen die Begegnungen mit der pensionierten Grund- und Hauptschullehrerin Heidenreich dazu, dass sie sich intensiv mit den Folgen ihres Reitunfalls beschäftigt. Sie findet Berichte anderer ehemaliger Komapatienten, die mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Sie besucht ein Seminar zum Thema „Erfahrungen in Todesnähe“ und beginnt, die Ursachen ihrer Ängste zu verstehen. Heute sagt sie: „Erst durch eine Aufarbeitung all dessen, was ich erlebt hatte, kann ich wieder voll leben.“ Iris Rupp wohnt nun in Österreich, sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und arbeitet als Erzieherin.

In den vergangenen 30 Jahren konnte der AKL viele suizidale Menschen zurück ins Leben ziehen. Doch die Mitarbeiter müssen auch damit klarkommen, dass sie manchmal scheitern. Es gibt Klienten, die die Krisenbegleitung von heute auf morgen ohne Begründung abbrechen. Und es kommt vor, dass sich jemand trotz jahrelanger Unterstützung umbringt.

Das Gefühl der Angst

Alle zwei Wochen gibt es Supervisionssitzungen, bei denen die zurzeit 30 ehrenamtlichen AKL-Mitarbeiter reihum über ihre Fälle sprechen. Immer dann, wenn die Krisenbetreuung nicht fruchtet, wenn sie offenbar keinen Schritt weiterführt, sind der Austausch in der Gruppe und das Feedback durch die beiden hauptamtlichen Sozialpädagoginnen besonders wichtig. „Niemand von uns ist in der Lage, einen Suizid zu verhindern“, weist Ellen Wittke gegebenenfalls auf Grundsätzliches hin. „Nicht wir sind verantwortlich, sondern allein der Mensch, der sich das Leben nimmt.“

Es gibt Jugendliche und Erwachsene, die sich aus Liebeskummer umbringen wollen oder unter Mobbing in der Schule oder im Job extrem leiden. Es gibt junge Frauen, die nach der Geburt ihres ersten Kindes in ein seelisches Tief fallen, oder ältere Männer, die den Ruhestand nicht ertragen. Es gibt Geschiedene und Witwer, die das Alleinsein nicht verkraften. Auch Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not können zerstörerisch wirken. Suizidprävention versucht all denjenigen, die die Zukunft fürchten, Zuversicht zu vermitteln.

„In unserer materiellen Gesellschaft herrscht absolute Gefühlsknappheit – bis auf das Gefühl der Angst“, sagt Heidi Malzacher. Die Rentnerin und Vorsitzende des AKL kann die von ihr diagnostizierten „krank machenden Lebensstrukturen, die uns aufgebürdet und aufgezwungen werden“, nicht ändern. Aber sie möchte zumindest „Einzelnen helfen, die in ihrer Not den Mut aufbringen und sich an uns wenden“.

Anke Dietz* klingelt am 22. Juli 2014 an der Tür der Beratungsstelle in der Römerstraße. Die Stuttgarterin ist zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt. Sie berichtet von einer schwierigen Kindheit, einer gescheiterten Ehe, Stress im Beruf und einer zweiten unglücklichen Liebe. Als ihr dominanter Freund verlangt habe, dass sie sich die Fingernägel künstlich verlängern lasse, sei in ihrem Kopf die zwanghafte Vorstellung entstanden, dass sämtliche Kunststoffgegenstände verseucht seien. Nicht einmal Lebensmittelverpackungen könne sie noch anfassen. Lieber hungere sie.

Häufig sind es neue seelische Wunden, die alte seelische Wunden aufbrechen und das Gefühl entstehen lassen: Ich genüge nicht, bringe nicht das, was von mir erwartet wird. Verzweifelte Menschen entwickeln Verhaltensweisen, die psychisch Unbelasteten geradezu grotesk erscheinen. Anke Dietz wird immer stärker von ihrer Plastikphobie beherrscht. Wie gelähmt liegt sie im Bett, sie kann nicht mehr arbeiten. In der Familie und im Freundeskreis findet sie niemanden, der sich mit ihren irrationalen Ängsten auseinandersetzen will. Wie soll man jemandem helfen, der offenbar überall Gespenster sieht?

Irgendwann erträgt Anke Dietz ihr Leben nicht mehr, sie will es wegwerfen. Im Internet sucht sie nach Selbsttötungsmethoden – und kommt doch noch rechtzeitig zur Besinnung: Sie ruft beim AKL an. Zwei Tage später hat sie einen Gesprächstermin und ein empathisches Gegenüber.

Mit ihrer Krisenbegleiterin Gundula Heidenreich geht Anke Dietz seither regelmäßig spazieren oder trifft sich mit ihr in einem Café. Was bringen die Treffen? „Ich habe gemerkt, wie wichtig es für mich ist, dass ich meinen Kummer mit jemandem teilen kann“, sagt Anke Dietz. „Die Begegnungen erweitern meinen Horizont“, sagt Gundula Heidenreich. „Und ich lerne mich dabei auch selbst besser kennen.“

Anke Dietz besucht zudem einen Psychotherapeuten – aber das ist etwas anderes. Profis dürfen zu ihren Klienten keine allzu große Nähe aufbauen und sie schon gar nicht tröstend in den Arm nehmen. Anke Dietz und Gundula Heidenreich begegnen sich hingegen unbefangen: eine Frau von Mitte 30 mit ihrer mütterlichen Freundin. Die Krisenbetreuerin bietet keine Behandlung, sondern eine Beziehung.

Jetzt, nach zehn Monaten, zeigen sich erste Erfolge. Anke Dietz erzählt, dass sie daheim auf einem Kunststoffbrett Gemüse geschnitten habe – noch vor Kurzem wäre das für sie undenkbar gewesen – und dass sie plane, demnächst in Teilzeit wieder in den Beruf einzusteigen. Zu ihrer Krisenbetreuerin Gundula Heidenreich sagt sie: „Ich danke dir für deine Hartnäckigkeit.“

Es ist kein Zufall, dass in diesem Bericht über den Stuttgarter Arbeitskreis Leben fünf Frauen vorkommen. Etwa drei Viertel der Mitarbeiter und drei Viertel der Klienten sind weiblich. In der Selbstmordstatistik ist das Verhältnis genau umgekehrt: 2013 wurden drei von vier Suiziden von Männern ausgeführt. Die meisten von ihnen haben keine Hilfe gesucht.