Thomas Faißt hält das alte Handwerk des Köhlers am Leben. Alljährlich, um Pfingsten herum, lässt er es in seinem Heimatort Baiersbronn kräftig rauchen.

Baiersbronn - Hoch oben thront er auf seinem Kohlenmeiler. Rauch hängt einen Augenblick lang in den Fichten, klammert sich in den Ringwall aus Nadelbäumen. Thomas Faißt, 49, rammt seinen Köhlerstecken senkrecht in den Bauch des Ungetüms, fünfmal, sechsmal, mit Wucht, als ob er die Glutsäule nicht nur bis auf den Erdboden treiben möchte, sondern tiefer, zum Teufel höchstpersönlich.

 

Zwei Kinder verstecken sich hinter ihren Eltern, spicken zwischen den Beinen hervor. Einem Wanderer fällt die Gurkenscheibe aus dem belegten Brot. Fotoapparate blitzen. Plötzlich ziehen Rauchschwaden gen Himmel, wie Wolken schieben sie sich vor die Sonne. Während der Köhler von seinem Meiler steigt, entrollt sich ein Schattenteppich auf die Waldlichtung.

Das alles hat etwas Mystisches, einen Sog und eine Kraft. Das Publikum geht auf Tuchfühlung mit der Vergangenheit. Fast jeder kennt sie schließlich, die Skizzen, Gemälde oder vergilbten Fotografien von verrußten Kohlenbrennern und ihren Meilern. Ist das vielleicht der Grund dafür, dass Thomas Faißt seit zehn Jahren unermüdlich einen nahezu ausgestorbenen Beruf in die Öffentlichkeit trägt? Inszeniert er deshalb diesen nostalgischen Effektmoment?

Eine Mischung aus Begeisterung und Ehrfurcht

Der gebürtige Nordschwarzwälder lässt sich mit der Antwort Zeit. Gemächlich legt er seinen gewaltigen Köhlerstecken neben den Meiler ab und wischt seine kräftigen Hände mit einem Stofftuch. Dann spricht er: „Es war von Anfang an meine Idee, die Köhlerei mit einem Kulturprogramm zu verbinden. Eigentlich begann alles mit diesem ganz speziellen Wunsch.“

Mit einer Mischung aus Begeisterung und Ehrfurcht erzählt Faißt von dem Märchen „Das kalte Herz“, das im Raum Baiersbronn eine besondere Bedeutung hat. Der schwäbische Dichter Wilhelm Hauff gastierte gelegentlich in Schwarzenberg, einem malerischen Teilort der Feriengemeinde, wo er mit ziemlicher Sicherheit Teile der Geschichte verfasste, zumindest aber Inspiration und Ideen dazu sammelte.

Eine Kurzversion: unzufrieden mit seinem eigenen Stand, lässt sich der junge Kohlenbrenner Peter Munk mit einem bösen Waldgeist ein, der ihn im Tausch gegen sein Herz mit Gulden überschüttet. Reichtum und Gefühlskälte liegen von nun an auf der einen, Armut und Seelengüte auf der anderen Waagschale. Mit diesem Konflikt jagt Hauff seinen Protagonisten durch das Schwarzwaldmärchen, um ihm am Ende die Erkenntnis zu verleihen, dass es besser ist, mit weniger zufrieden zu sein, „als Gold und Güter zu haben und ein kaltes Herz“.

Die Suche nach dem Glück

Kurz unterbricht Faißt seine Ausführungen, er müsse „den Meiler füttern“. Seine Frau Nella hilft ihm dabei, reicht ihm einen Eimer mit Holz- und Kohlestückchen, die er dem gierigen Wesen in den Schlund schüttet. Als er zurückkehrt, liegt in seinen Augen eine tiefe Ernsthaftigkeit.

Die ständige Unzufriedenheit der Leute, die Suche nach Glück in materiellen Werten, die Maßlosigkeit und mangelnde Empathie in der heutigen Gesellschaft: Faißt entdeckt in Hauffs alter Märchenwelt nicht nur erschreckende Parallelen zur aktuellen Finanzkrise, sondern ein Lebenskonzept, das die Menschen unglücklich macht, damals wie heute. Darüber hinaus transportiert die Geschichte für ihn ein tiefes Heimatgefühl: „Sie hilft mir bei der Identitätssuche, ich spüre eine Verbindung zu meinen Ahnen.“

Wird es jetzt gruselig? Séancen im Nordschwarzwald? Totenbeschwörung auf düsteren Waldlichtungen? Nein. Was zunächst exzentrisch klingt, lässt sich besser verstehen, wenn man die Ahnen nicht als flüsternde Stimmen aus der Vergangenheit begreift. Thomas Faißt spürt vielmehr ein Verbundenheitsgefühl mit der eigenen Geschichte und deren Vergänglichkeit, denn vor vielen Generationen tauchen Köhler im Stammbaum seiner Familie auf.

Ein einschneidendes Erlebnis

Gleichwohl fand er den Weg zum Kohlenbrenner eher zufällig. Anfang der 1980er Jahre macht Thomas Faißt – als einer der ersten Männer – das Abitur auf einem Gymnasium für Hauswirtschaft und Ernährung. Danach schließt er eine Ausbildung zum Forstwirt an. In Rottenburg studiert er an der Fachhochschule für Forstwirtschaft. Annähernd zehn Jahre arbeitet er danach als Forstingenieur in ganz Baden-Württemberg, unter anderem auf der Schwäbischen Alb, wo er einem jungen Köhler begegnet, dem er kurzerhand einen Tag bei der Arbeit hilft.

Dieses einschneidende Erlebnis treibt ihn zu einem Selbstversuch. Im Jahr 2001 baut er seinen ersten Meiler, noch tief versteckt im Baiersbronner Wald: „Ich konnte mich ja nicht gleich auf den Dorfplatz stellen und rufen, ich mach hier jetzt den Köhler“, erzählt er.

Faißt ruht in sich, ein bisschen wie sein Meiler, der jetzt wieder gemütlich weiße Pfeifenkringel auf die Lichtung pustet. Aber auch ein Meiler kann bekanntlich spucken und speien. Ebenso kann der Köhler aufbrausen und lospoltern. „Wenn ich mich für etwas begeistere, dann verbrenne ich mir nicht nur die Finger, sondern werfe mich mit Haut und Haaren ins Feuer“, sagt er.

Die Herstellung von Holzkohle als kulturelles Ereignis

Der selbstständige Forstingenieur arbeitet mittlerweile als Holzfäller in Privatwäldern und Förster auf Honorarbasis, er betreibt Gartenpflege und Obstbaumschnitt, gibt Motorsägenkurse und brennt eigenen Schnaps. Seit dem erfolgreichen Feldversuch der Kohlenproduktion ist ein weiteres Standbein die Köhlerei geworden. Dieses spezielle Thema treibt ihn durch das ganze Jahr hindurch, er verkauft, referiert und plant, zweieinhalb Monate benötigt er allein für die Organisation und Umsetzung der Veranstaltung „Kultur am Meiler“.

Um Pfingsten herum arrangiert Faißt Vorträge, Liederabende, Märchen- und Krimilesungen auf der Waldlichtung. Selbstverständlich wird auch gegrillt. Nicht auf höchstem Gourmetniveau, wie die bekannte Feinschmeckerdestination Baiersbronn vermuten lassen könnte, sondern bodenständig. Immer wieder vermischt sich die würzige Waldluft mit dem Duft von gebratenem Fleisch. Es gibt Steaks und Würstchen vom Biobauernhof. Gebrutzelt werden die Leckereien natürlich auf seiner handgemachten Holzkohle.

Während der zweiwöchigen Veranstaltung bleibt der Köhler durchweg an Ort und Stelle. Er schläft in einer kleinen Hütte direkt neben dem Meiler. Aus gutem Grund: verwandelt sich der weiße Wasserdampf, der stetig aus den Pfeifenlöchern steigt, in grau-bläulichen Rauch, ist in diesem Teil des Meilers die trockene Destillation beendet und der Kohlenstoff verbrennt. Der Köhler muss dann schleunigst den Luftkanal schließen und an einer anderen Stelle einen neuen stechen. Durch das Verfahren hält er den höchstmöglichen Anteil an Kohlenstoff im Endprodukt.

Völlige Zufriedenheit

Ständig tauchen Wandergruppen bei ihm auf, rasten, schwatzen und vespern. Einmal kamen rund 900 Besucher im Laufe eines Tages. Solch einen Andrang kann der Köhler nicht alleine bewältigen. Seine Familie hilft ihm, seine Frau, die Söhne oder auch die Brüder. An diesem Mittag rollt ein Auto den Waldweg herauf. Sein Vater Helmut schaut nach dem Rechten, seine Mutter Hilde bringt das Mittagessen – er kann sich ja nicht die ganze Woche von Quellwasser, Würstchen und Brot ernähren.

Nebenher müssen die Abendveranstaltungen organisiert werden, von denen sein „spezieller Wunsch“ zu einem alljährlichen Höhepunkt avancierte: Ursprünglich wollte Thomas Faißt nur einmal „Das kalte Herz“ in der Kulisse eines echten Kohlenmeilers hören. Er kooperierte mit dem Theater Lindenhof, das das Märchen in einer musikalischen Lesung präsentierte. Die Aufführung wurde ein voller Erfolg.

Ende gut, alles gut? Nein, nicht einmal ansatzweise. Der Köhler Faißt ist zwar glücklich, aber er ist eben auch ein getriebener Geist, der nur schwer zur Ruhe kommt. Er möchte die Geschichte lieber vortragen als zuzuhören. Es sei einfach authentischer, wenn er, der Kohlenbrenner, das Märchen vom Kohlenbrenner, der sein Herz verkauft, selbst erzählt. Also nahm Thomas Faißt Stimm- und Gesangsunterricht. Seit einigen Jahren trägt er „Das Kalte Herz“ gemeinsam mit einem Freudenstädter Pianisten vor.

Und wie ist es, wenn die Geschichte vorbei ist, die Zuschauer fort sind? Wenn er nachts allein auf der Lichtung hockt? Geht es ihm wie dem armen Peter Munk: Stimmen die „dunklen Bäume umher und die tiefe Waldesstille sein Herz zu Tränen und unbewusster Sehnsucht“? Thomas Faißt lacht. Eigentlich spüre er nach so einem Tag nur eine herrliche Ausgeglichenheit und völlige Zufriedenheit, während das Ungetüm neben ihm friedlich schmaucht.