Der Islamische Staat entführt auch Kinder. Was geschieht mit ihnen?
Jungen ab einem Alter von acht Jahren werden vom IS zu Kindersoldaten gemacht. Eine Jesidin, mit der ich gesprochen habe, fand ein Foto ihres Sohnes im Internet: Er trägt eine Waffe und ein Kopftuch, darauf steht „Allah ist groß und Mohammed sein Prophet“. Das Paradoxe daran ist: dieses Kind wird ausgebildet, seine eigenen Leute zu töten. Die Gehirnwäsche funktioniert so gut, dass einige der Kinder, die freigekommen sind, den Erwachsenen nicht erlauben, den IS zu kritisieren.
Was macht die IS-Kämpfer so gefährlich?
Sie nehmen den Tod von Frauen, Kindern und Männern hin. In den Augen der IS-Terroristen sind Ungläubige wie die Jesiden keine Menschen, sondern Waren. Man darf mit den Waren machen, was man will. Sie betrachten die Frauen als ihr Eigentum.
Wie oft waren Sie vor Ort?
Ich war achtmal im Nordirak und auch in Syrien. Alles im Rahmen dieses Sonderprojekts, darüber hinaus mehrere Male für meine wissenschaftliche Arbeit.
Wie hoch war die Gefahr für Sie persönlich ?
Ich kenne mich in der Region gut aus und spreche die Sprachen, falle also nicht besonders auf. Insofern bin ich relativ sicher. Momentan sehe ich für mich keine Gefahr, ich bin noch nicht bedroht worden.
Baden-Württemberg stellt für das Sonderprogramm 30 Millionen Euro zur Verfügung. Reicht das aus?
Ich denke ja. Die Planung ist jetzt auf etwa zwei Jahre angelegt. Wir werden sehen, ob einige der Frauen irgendwann so stabil sind, dass sie von sich aus sagen: „Wir möchten zurück in unsere Heimat.“ Das wird natürlich auch davon abhängen, wie dann die Lage im Nordirak und speziell in den kurdischen Gebieten sein wird. Ich gehe aber davon aus, dass sich die meisten dafür entscheiden werden, in Deutschland zu bleiben. Nachdem ich mit vielen der traumatisierten Frauen gesprochen habe, weiß ich, dass sie aufgrund der Demütigungen und Gewalt, die sie erlebt haben, froh sind, ihre Heimat hinter sich gelassen zu haben. Im Nordirak wissen ihre Landsleute, dass sie zu denjenigen gehören, die vergewaltigt worden sind. In Deutschland sind die Voraussetzungen für einen Neuanfang deutlich besser.
Wie können die Frauen die schweren Traumatisierungen bewältigen?
Ein Trauma muss man sich so vorstellen: Plötzlich und unerwartet erlebt man eine extreme Situation, die außerhalb des normalen Lebens liegt. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ein neunjähriges Mädchen erzählte mir, sie sei von ihrer Mutter zum Bäcker geschickt worden. Kurz vor dem Laden kommen IS-Kämpfer und nehmen sie mit. Plötzlich ist ihre Welt eine völlig andere. Ein Mädchen, das sich nie eine Vergewaltigung auch nur vorstellen konnte, wird vergewaltigt und danach an zwölf verschiedene Männer verkauft. Solche schrecklichen Erlebnisse verfestigen sich im Gedächtnis, so dass die Betroffenen diese Ereignisse quasi immer wieder erleben, obwohl sie vorbei sind. Eine Kleinigkeit kann diese Empfindung auslösen: Ein Geruch von einem Fleisch kann beispielsweise an den Geruch des Vergewaltigers erinnern. Ein lauter Knall kann an Schüsse erinnern. Auch ein Gebet des Muezzins oder jemand, der arabisch aussieht, kann bei diesen Frauen große Ängste wecken.
Was sind die Folgen?
Die Frauen haben psychosomatische Beschwerden, Schmerzen im Unterleib, im Bauch, im Kopf. Sie leiden unter einer schweren psychischen Erkrankung, die aber behandelbar ist. In Deutschland haben wir ein gutes psychologisches und medizinisches Knowhow. Was uns noch etwas fehlt, ist die transkulturelle Erfahrung: Wir können zwar unsere Methoden anwenden, wir müssen sie aber anpassen – auf den unterschiedlichen Umgang in der jeweiligen Kultur mit einer Krankheit.
Wann beginnt die Behandlung?
Wir untersuchen die Frauen schon vor Ort, dadurch haben wir eine erste Diagnose über den Schweregrad der Erkrankung. Wenn sie dann hierherkommen, wissen wir schon, welche Behandlung notwendig ist.
Welche Probleme gibt es bei Ihrer Arbeit?
Die Sicherheitslage im Irak muss ständig geprüft werden. So war es zum Beispiel eine unerwartete Entwicklung, dass das türkische Militär auch Gebiete im Nordirak bombardiert. Wir mussten schauen, ob unser Projekt darunter leiden könnte, was zurzeit nicht der Fall ist. Zudem müssen in Baden-Württemberg noch Dolmetscher, Ärzte und Therapeuten geschult werden sowie Mitarbeiter von Behörden darüber informiert werden, wie sie mit den traumatisierten Frauen umzugehen haben.