Sie lagen mit den Nazis im Streit, sie dirigierten Honoratioren und Großindustrielle. Ein neues Buch beschreibt die Biografien der Komponisten, die in der Stadt gearbeitet haben.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Esslingen - Die jetzt erschienene Publikation des Helbling-Verlages zeigt es: Esslingen war nach Stuttgart und Tübingen die drittwichtigste Musik-Stadt in Württemberg. Vor allem das Lehrerseminar, die evangelische Hochschule für Kirchenmusik und natürlich der Oratorienverein waren es, die begabte Komponisten in die Reichsstadt holten.

 

Mein lieber Herr Gesangsverein? Beileibe nicht. Der Esslinger Oratorienverein war eine Vereinigung, in der Honoratioren genauso sangen wie Großindustrielle. Im Vorstand war bis in die 1930er Jahre der musikbegeisterte Oberbürgermeister Max von Mülberger, der mit einer Opernsängerin verheiratet war.

1935 war jedoch der Oratorienverein zum Erliegen gekommen, nachdem die gleichgeschaltete Nazi-Lehrerschaft die Zusammenarbeit mit ihm aufgekündigt hatte. Hier kommt der Komponist Hugo Distler ins Esslinger Spiel. Im Jahr 1908 geboren, war er mit 23 Jahren durch seine „Deutsche Choralmesse“ in ganz Deutschland berühmt geworden. Er übersiedelte 1937 als Dozent an der Württembergischen Hochschule für Musik nach Stuttgart-Vaihingen in den Ammonitenweg.

Distler leitete die Sing-Akademie

Die Nachfolgerin des Oratorienvereins wurde 1938 die Sing-Akademie, und sie berief Distler zum Leiter. Mit Schwung stürzte er sich in die Proben, kritisierte jeden einzelnen Sänger, ließ üben, üben und nochmals üben, bis er Großindustrielle wie Honoratioren gegen sich aufgebracht hatte. Seine Hauptfeinde wurden aber die Nazis, die er mit moderner Musik und einer Aufführung der christlichen Johannespassion zu seinen Gegnern machte. Aufgrund des Drucks von außen wurde die Sing-Akademie 1938 wieder geschlossen. Distler ging nach Stuttgart zurück, dann nach Berlin. Der Krieg, seine zerrütteten Familienverhältnisse und die Gegnerschaft der Nazis waren zuviel für den Komponisten. 1942 setzte er seinem Leben ein Ende.

Die Geschichte der Esslinger Musik in der Neuzeit beginnt früh: Der erste bedeutende Komponist, der in Esslingen wirkte, war Justin Heinrich Knecht, 1752 in Biberach an der Riß geboren. Sein Vater schickte ihn quasi von Reichstadt zu Reichstadt nach Esslingen in die Ausbildung. Hier traf er mit dem Komponisten und Lyriker Daniel Schubart zusammen, dessen Onkel im Esslinger Alumneum Rektor war, und der ihn für das Musikleben begeisterte. Mit der Esslinger Ausbildung als Basis ging er nach Biberach zurück, um fortan 20 Opern und Operetten zu schreiben, sowie ein Standardwerk für die Organistenausbildung, das sogar Beethoven besaß. Nach einem Intermezzo als Musikdirektor in Stuttgart starb er hochgeehrt 1817 in Biberach.

Christian Fink: Die erstaunlichste Neuentdeckung

Der Komponist Christian Fink ist wohl die erstaunlichste Neuentdeckung der letzten Jahre, angestoßen durch den Esslinger Musiker Robert Bärwald, der nach dem Erfolg seiner ersten CD nun daran geht, Finks chorische Werke einzuspielen. Fink wurde 1831 in Dettingen bei Heidenheim geboren. Ein Stipendium der Königin Olga brachte ihn ans Leipziger Konservatorium. Ein Angebot nach London schlug er aus, um am Esslinger Lehrerseminar zu arbeiten. Nicht nur dort, sondern auch als Leiter des Oratorienvereins und bester Orgelvirtuose Süddeutschlands brachte er das Musikleben der Stadt zur höchsten Blüte. Er starb im September 1911, nachdem er Esslingen ein halbes Jahrhundert geprägt hatte.

Mit dem Oratorienverein ist auch die Geschichte Helmut Bornefelds verknüpft, der 1906 in Stuttgart-Untertürkheim geboren wurde. Er besuchte das Georgii- Gymnasium in Esslingen und studierte später Musik in Stuttgart. Zurück in Esslingen probte er als Musiklehrer und Chorleiter auch zeitgenössische Musik, bis ihn die Nazis als Kulturbolschewisten diffamierten. Knapp entkam er dem KZ. Er brachte sich als Kantor in Heidenheim aus der Schusslinie der Nazis. Als sich in Esslingen 1945 die Evangelische Hochschule für Kirchenmusik gründete, wurde Bornefeld wenig später Dozent. Er hinterließ eine Fülle von geistlichen Werken, bis er 1990 starb. Und noch ein zweiter Komponist, geboren 1936 und gestorben 2013, hatte seinen Brotberuf als Professor der Musikhochschule; Hans Georg Bertram, der zahlreiche Messen, Kantaten und Motetten schrieb.

Durch den Umzug der evangelischen Hochschule für Kirchenmusik nach Tübingen und das Erlöschen des Lehrerseminars nahm die musikalische Bedeutung von Esslingen ab. Erst in jüngster Zeit wurde sie wieder aufgewertet: durch die erstaunlichen bundesweiten Erfolge des Esslinger Podium Festivals.